Diskretes und Indiskretes von Eheleuten in Pension
Ausgabe: 1998/37, Diskretes und Indiskretes von Eheleuten in Pension, Überbleiben
09.09.1998 - Kirchenzeitung der Diözese Linz, Hilde Eidenberger
Der Briefträger bringt einen schwarzumrandeten Brief. Ich starre auf die Parte.„Viktor ist gestorben“, sage ich. „Wieder einer unserer Jugendfreunde.“Mein Mann zuckt die Achseln. „Wie alt war er denn?“„Einiges über siebzig“, sage ich. „Kein Grund um abzugehen.“„Da sieht man es wieder, wer wen ins Grab bringt“, sagt er. „Die Statistik hat doch recht, wenn sie euch Frauen eine längere Lebenserwartung zubilligt.“„Du bist so unernst. Fällt dir wirklich nichts Gescheiteres ein, wenn einer aus unserer Jugendzeit stirbt?“ Er schweigt, zieht an seiner Zigarette, schaut mich an. „Was soll mir schon einfallen?“„Denkst du nie daran?“ frage ich. „Sicher nicht so oft wie du“, sagt er dann. „Ich habe Wichtigeres zu tun. Ich bin mit Leben beschäftigt. Alles übrige wird sich zeigen.“Wir schweigen vor uns hin. Ich denke an Viktor und seine Frau, die jetzt alleine zurückgeblieben ist, und schaue meinen Mann an. So ist das also. Ob wir daran denken oder nicht – es kommt. Eines Tages wird eins von uns gehen, das andere bleiben.Er sieht mich an. „Schau nicht so trübsinnig aus der Wäsche“, sagt er. „Seien wir doch froh, daß wir jetzt so leben dürfen, wie wir leben. Zuviel Zukunft ist ungesund. Aber eines sag ich dir“, auf einmal beugt er sich vor und kommt mir ganz nahe, „eines sag ich dir: Daß du ja nicht vor mir stirbst – das wäre ein zu großer Verlust von Lebensqualität!“„Hör einmal, das ist ja direkt ein Kompliment, das du mir da gemacht hast“, sage ich. „Aber der Abschied ist unausbleiblich. Soll man sich nicht langsam mit dem Gedanken anfreunden, daß man alleine wird leben müssen?“ Willst du vielleicht mit deinem Kompliment sagen, daß du ohne mich nicht leben kannst?“„Können schon, aber nicht wollen“, sagt er auf einmal sehr ernst – aber nur einen Augenblick. Dann bekomme ich sofort „Saures“, wie das so seine Art ist: „Zum Unterschied von dir – denn ob du alleine leben kannst, bezweifle ich zutiefst. Wenn ich wirklich vor dir sterbe, bekommst du automatisch den Hilflosenzuschuß. Wenn ich an deine zwei linken Hände denke . . .“.Ich greife über den Tisch, möchte seine Hand fassen. Patsch! Das Keffeehäferl ist umgestoßen, und es gibt eine mittlere Überschwemmung.„Nun! Habe ich nicht recht?“ seufzt er. Seufzt er wirklich nur wegen der zwei linken Hände?Hilflosenzuschußoder Selbständigkeit„Hermann, Hilfe!“ tönt meine Stimme kläglich durch das Haus.„Wo muß ich denn schon wieder Feuerwehr spielen?“ kommt seine Antwort aus dem Badezimmer.„Ich bringe die Fenster nicht auf. Sie kleben durch den Dunst so aneinander, daß sie sich nicht bewegen lassen. Ich habe einfach nicht die Kraft dazu“, erkläre ich.Mein Mann kommt. Ein kurzer Druck, ein bißchen Hin- und Hergeschiebe, offen sind sie.„Wie hast du das nur gemacht?“ frage ich – irgendwie verärgert, daß ich diesen einfac hen Handgriff nicht zustande gebracht habe.„Mit Gefühl“, sagt er ironisch. Prompt gehe ich in die Falle. „Willst du damit sagen, ich habe keines?“ „Zuwenig – zumindest für Fenster“, behauptet er. Dann seufzt er tief auf. „Wie ich immer sage: Wenn ich einmal sterbe, bekommst du den Hilflosenzuschuß . . . Wer wird dir die Dosen öffnen, Sicherungen einschrauben, Fenster auftauen, Heizungen aufdrehen . . .“„Bitte sehr, das kann ich doch wohl selber. Su dumm und patschert mußt du mich auch nicht hinstellen“, wehre ich mich.„Darf ich untertänigst daran erinnern, daß letzten Herbst die Heizungen zwar aufgedreht, aber nicht entlüftet waren? Und du hast dich tagelang gewundert, warum es nicht warm wird.“Ich ziehe den Kopf ein. Er hat ja recht. Meine Mutter hat sich immer gewundert, wie dumm ich mich anstelle, und mein Vater hat gesagt: „Hilde, du hast nicht nur zwei linke Hände, sondern auch zwei linke Füße!“ Mein Mann hat als aufgeklärter Skeptiker von solchen Vorurteilen nichts gehalten und mich trotzdem geheiratet. Ich habe die Chance des neuen Anfangs redlich nützen wollen. Aber wenn mich mein Mann herumfuhrwerken sah, nahm er mir sofort die Dinge aus der Hand: „Ich kann dir nicht zuschauen, wie verkehrt du alles angreifst.“„Wenn es mir niemand zeigt“, stöhnte ich. „Aber so etwas muß einem doch nicht gezeigt werden“, regte er sich auf. „Das sagt einem doch der Hausverstand!“ So ist das also.Jetzt aber wird es ernst. Was ist, wenn ich wirklich alleine zurückbleibe?Vielleicht sollte ich jetzt schon anfangen, nicht wie ein kleines Kind kläglich um Hilfe zu rufen, wenn wieder einmal ein Schloß klemmt. Warum soll ich nicht auch einmal etwas falsch machen und dabei lernen, wie es geht? Regt es mich nicht jedesmal auf, wenn mein Mann nach mir schreit, wenn er ein Handtuch aus dem Kasten braucht oder wenn er im Gefrierschrank was sucht. „Mehr Selbständigkeit!“ fordere ich dann. Und bei mir? Na also! Jedem das Seine! Die (notwendige) Selbständigkeit hat eben bei jedem ein anderes Gesicht und ist nicht nur eine Frage von „zwei linken Händen“.