Die Bundesregierung will die Mindestsicherung reformieren. Als Begleitmusik geistert eine eigenartige Debatte durch das Land: Da würden Leute mehr als 2000 Euro Mindestsicherung bekommen und deshalb nicht mehr arbeiten wollen, lautet der Tenor. Gespräche mit kirchlichen Experten zeigen: Diese Diskussion trifft nicht den Kern.
„Von den Leuten, die zu uns kommen, wissen nicht alle, dass es die Mindestsicherung überhaupt gibt“, sagt Cornelia Birklbauer. Sie arbeitet für die Sozialberatung der Caritas in Linz und klärt Menschen mit geringem Einkommen über ihre Möglichkeiten und die Voraussetzungen auf. Letztere haben es bei der Mindestsicherung in sich: Bevor man aus diesen Mitteln Geld bekommt, muss zum Beispiel das eigene Vermögen bis zu einem Betrag von 4189 Euro aufgebraucht sein; ein Auto darf man nur besitzen, wenn der Wert darunter liegt bzw. man es benötigt; wohnt man in einer Eigentumswohnung oder einem eigenen Haus, kann sich die Behörde nach sechs Monaten Mindestsicherungsbezug ins Grundbuch eintragen lassen (Pfandrecht).
Dass jemand noch 4189 Euro Vermögen hat, erlebt Sozialberaterin Birklbauer in der Praxis selten: „Es kommen zum Beispiel Menschen, die eine geringe Arbeitslosenunterstützung erhalten, oder Alleinerzieherinnen nach einer Trennung, bei denen sich aufgrund langwieriger Verfahren die Aliments- oder Unterhaltszahlungen verzögern. Es geht immer wieder auch um Menschen, die saisonal arbeitslos sind. Und es zeigt sich, dass anerkannte Flüchtlinge in den vier Monaten, in denen sie noch in der Grundversorgung bleiben können, oft keinen Job finden und so auf die bedarfsorientierte Mindestsicherung angewiesen sind.“ Das Geld werde oft schon knapp, wenn die Waschmaschine kaputt geht oder ein Schulschikurs ansteht.
Politische Pläne
Dass die Anzahl der Bezieher von Mindestsicherung seit 2011 um knapp 33 Prozent auf 256.405 Personen im Jahr 2014 gestiegen ist, wird als ein Argument für eine Verschärfung der Regelung angeführt. Es geht in Richtung mehr Kontrolle und Sachleistung statt Geld. Innerhalb der Regierung will die ÖVP aber auch eine Deckelung der Mindestsicherung auf 1500 Euro, von der in der Praxis Familien mit mehr als zwei Kindern betroffen sein würden. In diesem Zusammenhang hieß es unter anderem, allein in Oberösterreich gebe es „hunderte Fälle“, die mehr als 2000 Euro Mindestsicherung im Monat bekommen.
Laut dem Büro des zuständigen Soziallandesrats Reinhold Entholzer (SPÖ) waren es zuletzt aber nur 67 Haushalte in diesem Bundesland, für die das zutrifft. Ein Faktencheck der Armutskonferenz zeigt: Um in Oberösterreich über 2000 Euro Mindestsicherung zu bekommen, muss ein Paar vier oder mehr Kinder haben (ein/e Alleinerzieher/in sechs oder mehr Kinder). Im Durchschnitt bekamen laut Armutskonferenz in Oberösterreich solche Familien aber nur 783 Euro Mindestsicherung.
Oft nur Zuzahlung
Denn es gibt ein großes Missverständnis: Nur eine Minderheit der Bezieher erhält die volle Höhe der Mindestsicherung. In der großen Mehrheit wird nur der Differenzbetrag zwischen einem anderen Einkommen und der Mindestsicherungsgrenze gezahlt. Genauere Zahlen liegen laut Martin Schenk, der für die Diakonie und die Armutskonferenz arbeitet, nur für Wien vor: Demnach erhielten dort 2014 rund 30 Prozent der Bezieher die Mindestsicherung in voller Höhe. Die Einkommen, auf welche die Mindestsicherung bei den anderen 70 Prozent aufstockt, können unter anderem manche Sozialleistungen, Unterhaltsleistungen, aber auch Erwerbseinkommen sein.
Motivation?
Ein politisches Argument für Verschärfungen bei der Mindestsicherung lautet, dass Bezieher wenig Motivation hätten, sich eine Arbeit zu suchen. Aber: Stimmt die Gegenüberstellung von Mindestsicherung und Arbeit? Es gibt Menschen, die arbeiten gehen und dennoch Mindestsicherung beziehen: „Solche Fälle haben wir sehr oft“, erzählt Caritas-Beraterin Birklbauer: Das seien z.B. alleinstehende Frauen, die aufgrund von Kinderbetreuungspflichten keine Vollzeitstelle annehmen können, oder Menschen, die – beispielsweise wegen gesundheitlicher Einschränkungen – keine Vollzeitstelle finden. „Oft fallen auch Familien in diese Gruppe hinein, in denen der Mann Alleinverdiener ist und in einer schlecht bezahlten Branche arbeitet“, sagt Birklbauer.
Martin Schenk von der Diakonie verweist darauf, dass im September 2014 rund 27 Prozent der Mindestsicherungsbezieher minderjährig waren und 6,8 Prozent im Pensionsalter. Dazu kommen Menschen mit Beeinträchtigungen, Menschen, die krankheitsbedingt nicht arbeiten gehen können, die andere pflegen etc. 25,7 Prozent der Mindestsicherungsbezieher seien im September 2014 beim Arbeitsmarktservice (AMS) als arbeitssuchend gemeldet gewesen. Das müssen sie auch, weil ihnen sonst die Mindestsicherung gekürzt werden kann. Die durchschnittliche Bezugsdauer der Mindestsicherung liegt laut Armutskonferenz bei sechs bis neun Monaten.
Arbeitsplätze
Christian Winkler von der Bischöflichen Arbeitslosenstiftung Linz fragt sich, wo die Arbeitsplätze seien, die Betroffene annehmen sollen. „Berücksichtigt man auch verdeckte Arbeitslosigkeit, haben wir derzeit ca. 21 arbeitslose Menschen pro gemeldeter freier Stelle. „Winkler hält es für „völlig kontraproduktiv“, Leistungen wie die Mindestsicherung zu senken: So würden die Betroffenen an den Rand gedrängt und die Fähigkeit verlieren, Arbeit anzunehmen. Das zeige Deutschland: Es sei ein Effekt des dortigen Arbeitslosengeldes II („Hartz IV“), dass es viele Menschen nicht mehr schaffen, in die Arbeitswelt einzusteigen. Statt die Mindestsicherung zu senken solle man mehr dafür tun, Arbeitsplätze zu schaffen: „Den Druck auf die Betroffenen zu erhöhen schafft nicht mehr Arbeit, aber mehr Leid“, sagt Winkler.
Menschenwürde
Ähnlich argumentiert der Wirtschaftsethiker Sebastian Thieme von der Katholischen Sozialakademie, der dort eine nach P. Johannes Schasching benannte Forschungsstelle für Ethik innehat. „Dass die Mindestsicherung einerseits ein integriertes Leben ermöglichen und gleichzeitig Menschen zu einem möglichst raschen Einstieg in die Arbeitswelt disziplinieren soll, schließt sich gegenseitig aus“, sagt der aus Deutschland stammende Wissenschaftler auch mit Verweis auf „Hartz IV“. Von einer Sicherung, die ein Minimum garantieren soll, nochmals etwas wegzunehmen, sei mit der Menschenwürde, wie sie kirchliche Soziallehre definiert, nicht vereinbar: „Mindestsicherung wäre für mich, jemandem die Möglichkeit zu geben, als mündiger Bürger auch Entscheidungen über sein Leben treffen zu können“, sagt er.
Zur Sache
Mindestsicherung
Mit der bedarfsorientierten Mindestsicherung sollen jene Menschen unterstützt werden, die für ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft nicht aufkommen können. Sie wurde an Stelle der Sozialhilfe eingeführt. Die Mindestsicherung ist meist eine Aufzahlung auf anderes Einkommen, um einen gewissen Mindestbetrag zu erreichen. Bundesweit sind nur Mindeststandards festgesetzt, weswegen sich die maximalen Beträge der Mindestsicherung (die Höchstbeträge, die durch andere Einkommen gemindert werden) von Bundesland zu Bundesland unterscheiden. In Oberösterreich machen beide Teile der Mindestsicherung (einer für Lebensunterhalt, einer für Wohnkosten) für eine alleinstehende Person gemeinsam 914 Euro monatlich aus, im Burgenland 838. In Tirol und Vorarlberg sind für den Lebensunterhalt 628,32 bzw. 630,76 Euro vorgesehen, der Wohnkostenanteil richtet sich (unter Voraussetzungen) nach ortsüblichen Mieten. Zu den Einkommen, die diese Beträge mindern, gehören Erwerbseinkommen, Pension, Notstandshilfe, Arbeitslosengeld oder Unterhaltszahlungen. Nicht gemindert wird die Mindestsicherung durch die Familienbeihilfe.
Flüchtlinge
Neben der Diskussion um die Deckelung haben manche Bundesländer begonnen, die Ansprüche von Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten zu verändern: Niederösterreich hat den Anspruch für letztere Gruppe gestrichen. Oberösterreich will sie für Menschen mit Asyl auf Zeit und Schutzberechtigte auf die Höhe der Asylwerber-Grundversorgung (440 Euro) senken. In Vorarlberg droht Asylberechtigten bei Verstoß gegen die Integrationsvereinbarung die Kürzung der Mindestsicherung.
Zur Sache
Einkommen
Nach dem Motto „Arbeiten muss sich auszahlen“ wird für die Deckelung der Mindestsicherung geworben – damit der Abstand zu Erwerbseinkommen größer wird. Für den Wirtschaftsethiker Sebastian Thieme ist das der falsche Ansatz: „Es muss ein Abstand zu den Mindestlöhnen gewahrt werden, aber das müsste man von unten betrachten: Das Thema wäre nicht die Deckelung oder gar Kürzung der Mindestsicherung, sondern wie man die Erwerbseinkommen erhöht.“
Vergleich
„Perspektive von unten“ heißt, zu schauen, wie viel Geld für ein in der Gesellschaft integriertes Leben benötigt wird. Ein Beispiel: Ein Paar mit drei Kindern im Alter von sieben, neun und 14 Jahren bekommt in Oberösterreich maximal 1918,17 Euro Mindestsicherung (wenn es kein anderes Einkommen gibt). Rechnet man die Familienbeihilfe plus Kinderabsetzbetrag dazu, kommt man auf 2522,90 Euro. Das Referenzbudget der Schuldenberatung schätzt für solch eine Familie aber monatliche Kosten für Fixausgaben und Haushalt in der Höhe von 2861 Euro sowie weitere 1048 Euro für unregelmäßige Ausgaben. Die Armutsgefährdungsschwelle (nach EU-SILC) liegt bei der Beispielfamilie bei 3017 Euro.
Zur Einordnung
2014 lag das monatliche Haushaltseinkommen der Hälfte der Haushalte mit einem Paar und mind. drei Kindern zwischen 3152,30 und 5228,33 Euro. Je ein Viertel der entsprechenden Haushalte hatte mehr bzw. weniger Einkommen.