Alles ist von Gott geschaffen – auf die religiöse Aussage kommt es dem Bibeltext an, nicht auf naturwissenschaftliche Gegebenheiten.
Der Bibelleser, die Bibelleserin betritt die faszinierende, uns aber häufig fremde Welt der Bibel durch das doppelte Portal der beiden Schöpfungserzählungen Gen 1, 1 – 2, 4a und Gen 2, 4b–25. Man kann sich bei diesem Eintritt in die biblische Welt etwa so fühlen, wie wenn man in eine mittelalterliche Kathedrale betritt durch das meist wunderschön gestaltete, kunstvoll ausgeführte und auch inhaltlich streng durchdachte Hauptportal. Am Anfang stehen keine Nebensächlichkeiten, sondern ganz wichtige Botschaften.
Kunstwerk Schöpfung
Ich möchte heute ihr Augenmerk auf ein paar Aspekte der zweiten Schöpfungserzählung Gen 2, 4b–25 lenken, die nach herkömmlicher wissenschaftlicher Meinung die ältere der beiden ist: Gott, der Schöpfer des Menschen, wird als Künstler oder künstlerisch begabter Handwerker vorgestellt, der den Menschen wie ein Tongefäß formt und ihm den Lebensatem einhaucht (V. 7). Mit der bloßen Erschaffung des Menschen ist aber das Werk Gottes noch lange nicht vollendet. Er bereitet seinem Geschöpf einen wunderbaren Lebensraum, einen Garten, in dem es sich gut leben lässt (V. 8f.). Wie eine zarte, anfällige Pflanze setzt er dort den Menschen ein (V. 15). Dieser Garten quillt förmlich über vor lauter Lebensquellen, symbolisiert in den vier Weltströmen (V. 10–14). Auch die Gebote, die Gott dem Menschen gibt, gehören zur Ausstattung seines Lebensraumes (V. 16f.). Sie sollen das Leben gerade nicht einschränken, sondern ermöglichen. Schließlich beschließt Gott, den Menschen nicht als einsames Einzelwesen in eine wunderschöne Welt zu setzen, sondern ihm Gemeinschaft zu verschaffen. Der Mensch ist offenbar von Gott nicht bloß als ein sich selbst genügendes Individuum gedacht, sondern als Gemeinschaftswesen, das anderer bedarf zur Erfüllung seines Lebens. Mit der Erschaffung der Tiere (V. 19f.) ist dieses Ziel noch nicht voll erreicht, wenngleich jeder weiß, wie wertvoll Haustiere sein können, sowohl für Kinder als auch für vereinsamte Menschen jeden Lebensalters. Daher entschließt sich Gott, aus dem einen Menschen zwei zu machen (V. 21f.). Der Mensch existiert als geschlechtliches Wesen, als Frau oder Mann. Erst die „Überreichung“ der Frau, gleichsam als Geburtstagsgeschenk, an den Mann beglückt diesen wirklich und veranlasst ihn zu einem Lob der Frau (V. 23), das gleichzeitig ein indirektes Gotteslob darstellt.
Gleichheit der Geschlechter
Die Frau wird als dem Manne gleich gepriesen: Sie ist Bein von seinem Bein und Fleisch und von seinem Fleisch. In der hebräischen Sprache lautet daher die Bezeichnung für Mann (isch) und Frau (ischáh) auch fast gleich. Gerade diese Gleichheit von Frau und Mann ist es, auf die es diesem Lob der Frau ankommt, das sinniger Weise dem Mann in den Mund gelegt wird. Es geht also nicht an, mit Berufung auf diese wunderbare Schöpfungserzählung dem Mann einen wie immer gearteten Vorrang vor der Frau einzuräumen.
Ohne sich zu schämen
In der Gemeinschaft von Mann und Frau erfüllt sich schließlich der Schöpfungssinn Gottes (V. 24f.). Die Bindung des Mannes an seine Frau ist so stark, dass sogar er und nicht sie die Eltern verlässt, um sich mit seiner Frau zu verbinden. Ein Gedanke, der die männerzentrierte, patriarchale Gesellschaftsordnung sprengt! Und es endet fast wie im Märchen: Beide leben miteinander, ohne sich voreinander zu schämen (V. 25).
Gotteswort
Zur Zeit, als Gott, der Herr, Erde und Himmel machte, gab es auf der Erde noch keine Feldsträucher und wuchsen noch keine Feldpflanzen; denn Gott, der Herr, hatte es noch nicht regnen lassen, und es gab noch keinen Menschen, der den Ackerboden bestellte; aber Feuchtigkeit stieg aus der Erde auf und tränkte die ganze Fläche des Ackerbodens. Das formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen. Dann legte Gott, der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. [. . .] Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte. [. . .] Dann sprach Gott, der Herr: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt, Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. Gen 2, 4a–8. 15. 18