Das Tagebuch war bloß als Therapie gedacht, daraus geworden ist das Zeugnis einer Gottsuche in dunkelster Zeit. Die Aufzeichnungen der holländischen Jüdin Etty Hillesum, die in Auschwitz ermordet wurde, sind eine faszinierend, verstörende Lektüre für die Karwoche.
Ausgabe: 2016/11, Musiktheater, Etty Hillesum,
15.03.2016 - Josef Wallner
Sie lässt sich in kein Schema pressen: Etty Hillesum. Nur 29 Jahre alt ist sie geworden. Die radikale Sozialistin und Atheistin hat in ihren letzten beiden Lebensjahren zu Gott gefunden. Die Bibellektüre mit einem ihrer Geliebten – sie hatte stets mehrere – und die Freundschaft mit einer frommen Protestantin mögen Anstöße gewesen sein. Wenn man aber Etty Hillesums Tagbücher liest, begegnet man einer Mystikerin. Da bleibt nur Staunen. Das, was sie über Gott schreibt und wie sie mit ihm spricht, geht weit über alle Tradition hinaus. Das fasziniert und verstört zugleich. Die Zeitumstände, denen sie ausgeliefert ist, geben ihrer Vorstellung von Gott noch schärfere Konturen. Die Schlinge wird von Monat zu Monat enger, die das Leben der jüdischen Bewohner/innen Hollands einschnürt. Die Maßnahmen der deutschen Besatzer sind bekannt: von der gesellschaftlichen Diskriminierung über Verbote, die den Alltag zu einem einzigen Überlebenskampf machen, bis zur Deportation in die Vernichtungslager Polens.
Gott und Auschwitz
Die Frage, warum Gott all das zulässt, liegt auf der Hand. Etty Hillesum gibt dazu in ihrem Tagebucheintrag vom 12. Juli 1942 eine schier unglaubliche Antwort. Der Text, der als Sonntag-Morgengebet bekannt wurde (siehe linke Randspalte) und die folgende Passage über den blühenden Jasmin (rechte Randspalte) gehören inzwischen zu Klassikern in der Theologie. Etty will Gott retten, ihm helfen – lehrt das die Kirche nicht umgekehrt? Und ist nicht unverrückbare biblische Botschaft des Alten und Neuen Testaments, dass Gott sein Volk rettet? Man kann sich dem Bann der Worte Etty Hillesums nicht entziehen. Der jüdische Theologe Klaas A. D. Smelik verharmlost nicht die Verstörung, die in Hillesums Überlegungen steckt, betont aber: „Gott hat die Welt so geschaffen, dass der Mensch mitarbeiten muss. Jeder von uns hat die Aufgabe, für eine gute Welt zu sorgen. Gott hat uns in die Verantwortung genommen.“ Die Menschen können sich nicht einfach abputzen und so tun, als ob sie nicht diese Gräuel verursachen würden, betont Smelik. Die Frage, wo Gott in Auschwitz gewesen ist, wird offen bleiben. Doch Etty Hillesum legt für ihn eine Spur, die wert ist, bedacht zu werden. „Was sie schreibt, bringt uns aus der tiefsten Finsternis menschlichen Handels, der Shoah, der Vernichtung des jüdischen Volkes während des Zweiten Weltkriegs, wieder zu Gott zurück“, so Smelik.
Den Hass bekämpfen
Etty gehört zu Klaas Smeliks Leben, hat sie doch im Wissen um die nahe Deportation ihre Tagbücher seinem Vater übergeben. Mit der ausdrücklichen Bitte um Veröffentlichung. Fast 40 Jahre fand sich kein Verleger. Die Leute wollen Fakten über die Judenvernichtung lesen, Grausamkeiten, Ungeheuerlichkeiten, die die Nazis als Unmenschen zeigen, so das gängige Urteil der Branche. Als die Tagebücher schließlich doch 1981 veröffentlicht wurden, waren sie im Handumdrehen ein Bestseller. Inzwischen sind sie in 18 Sprachen übersetzt und weitere sind in Vorbereitung. Dabei sind die Tagebuchnotizen Hillesums nicht nur theologisch keine leichte Kost. Sie verlangt viel von ihr und von ihren Mitmenschen: in sich selbst den Hass auszurotten – darum geht es ihr. Etty notiert im Tagebuch: „Außerdem an diesem Morgen: die überaus starke Empfindung, dass ich trotz allen Leides und Unrechts, das überall geschieht, die Menschen nicht hassen kann und dass all das entsetzliche und grauenvolle Geschehen nicht etwas geheimnisvoll Fernes und Drohendes von außen, sondern uns selbst sehr nahe steht und aus uns Menschen hervorgeht.“ Sie schreibt das rückblickend auf ein Gespräch mit dem Vater von Klaas Smelik. Ihm gefallen diese Gedanken nicht, er hält sie für psychologisches Gewäsch. Für ihn, den „alten, verbissenen Klassenkämpfer“, wie ihn Etty liebevoll nennt, ist Zeit zum Kämpfen: gegen die Unterdrückung der deutschen Besatzer. Doch Etty lässt nicht locker. Man kann den Hass in der Welt nur dadurch bekämpfen, indem man zuerst den Hass in seinem eigenen Inneren bekämpft und ausrottet, so ihre Überzeugung.
Botschafterin des Lebens
Die Entwicklung von Etty Hillesum verläuft nicht geradlinig. Trotz allem Auf und Ab hat sie durchgehalten, was ihr in den letzten drei Lebensjahren geschenkt wurde. Sie war bis zum Schluss – so bestätigen Augenzeugen eine leuchtende Persönlichkeit. Das fasziniert den Theologen Smelik an ihr: „Sie ist eine Botschafterin des Lebens. Diese unbedingte Bejahung des Lebens, die selbst noch den Tod mit einschließt, das ist für mich die Mitte ihrer Schriften.“ Unbeirrt hält Etty an ihrem Glaube an Gott und an den Menschen fest. Ihr Tagebuch lässt sich nicht zu einer systematischen Theologie verarbeiten. Da würde man Etty überfordern, aber sie ist eine Inspiration für Gläubige und Nichtgläubige, weiß Klaas Smelik aus unzähligen Gesprächen. Mit dem Wort „Möge die Erinnerung an sie zum Segen sein“ hat er jeden seiner drei Vorträge beendet, die er kürzlich in Linz gehalten hat.
Wörtlich
Sonntag-Morgengebet
Es sind schlimme Zeiten, mein Gott.
Heute Nacht geschah es zum ersten Mal, dass ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leides an mir vorbeizogen. Ich verspreche dir etwas, Gott, nur eine Kleinigkeit: Ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu braucht man eine gewisse Übung. Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das Einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen. Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst auch du nicht viel ändern zu können, sie gehören nun mal zu diesem Leben. Ich fordere keine Rechenschaft von dir, du wirst uns später zur Rechenschaft ziehen. Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen. (...) Ich werde in nächster Zukunft noch sehr viele Gespräche mit dir führen ...
Etty Hillesum
Tagebucheintrag vom 12. Juli 1942
Ich sorge gut für dich, Gott
Der Jasmin hinter dem Haus ist jetzt ganz zerzaust vom Regen und den Stürmen der letzten Tage, die weißen Blüten treiben verstreut in den schmutzigen schwarzen Pfützen auf dem niedrigen Garagendach. Aber irgendwo in mir blüht der Jasmin unaufhörlich weiter, genauso überschwänglich und zart, wie er immer geblüht hat. Und sein Duft verbreitet sich um deinen Wohnsitz in meinem Inneren, mein Gott. Du siehst, ich sorge gut für dich. Ich bringe dir nicht nur meine Tränen und ängstlichen Vermutungen dar, ich bringe dir an diesem stürmischen, grauen Sonntagmorgen sogar duftenden Jasmin. Ich werde dir alle Blumen bringen, die ich auf meinem Weg finde, und das sind immerhin eine ganze Menge. Du sollst es so gut wie möglich bei mir haben. Und um nur irgendein beliebiges Beispiel zu nennen: Wenn ich in einer engen Zelle eingeschlossen wäre und eine Wolke zöge am kleinen vergitterten Fenster vorbei, dann würde ich dir die Wolke darbringen, mein Gott, jedenfalls solange ich dazu noch die Kraft hätte. Ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen, aber meine Absichten sind die besten, wie du wohl merkst.
Etty Hillesum
„Wörtlich“ – die Textesind entnommen aus: Das denkende Herz der Baracke. Die Tagebücher der Etty Hillesum 1941–1943, Herausgegeben und eingeleitet von J. G. Gaarlandt, rororo Taschenbuch 15575.
Etty – szenische Lesung
Das Tagebuch der Etty Hillesum (1941–1943). Bettina Buchholz, Georg Bonn und Erich Langwiesner lesen Texte der holländischen Jüdin Etty Hillesum. Ein Theaterprojekt von Johannes Neuhauser. Der nächste Aufführung:
- Donnerstag, 14. April 2016, 20 bis 21.30 Uhr. Musiktheater Linz, BlackBox Lounge. Karten: € 18,– unter Tel. 0800/21 80 00 oder www.landestheater-linz.at