Ausgabe: 2011/17, spielen, lebendig, St. Pius, Flötenunterricht, Gruppe, Ehrgeiz, Talent
27.04.2011 - Ernst Gansinger
„Das Miteinander-Spielen macht uns lebendig. Wichtig ist, dass wir zusammenkommen. Mit der Zeit wächst viel. So können schon einige die Stimme halten. Musik weckt die eigene Persönlichkeit“, sagt Silvia Humer über den Flötenunterricht in St. Pius.
Sr. Luise vom Caritas-Institut St. Pius in Steegen hat schon sehr früh das musikalische Talent von Sabine Nemmer erkannt und es gefördert. Mit acht Jahren spielte Sabine Xylophon. 1987 hat Sr. Luise für ihre hochmusikalische Heimbewohnerin in der Musikschule Peuerbach Flötenunterricht beantragt. Der damalige provisorische Leiter konnte sich nicht vorstellen, Menschen mit Behinderung in der Musikschule Unterricht zu geben. Er meinte zur damaligen Flötenlehrerin Silvia Humer – sie ist mittlerweile Musikschuldirektorin in Andorf –, sie könne ja im St.-Pius-Heim unterrichten. Dieses „unglaubliche Armutszeugnis für die Integration“ aber wollte Silvia Humer nicht unterstützen. Mit einem neuen Leiter wurde 1989 möglich, dass Sabine Nemmer aus St. Pius Flöten-Unterricht erhielt. Kaum ein Jahr später kam eine weitere Schülerin dazu.
Treue zur Gruppe. Heute gehören zur Flötengruppe, die nach wie vor von Silvia Humer unterrichtet wird, vier Frauen: Susi Binder, Rosalinde Mitgutsch, Sabine Nemmer und Brigitte Niedermair. Jeden Montag kommen sie mit großer Freude in einem Probenraum in St. Pius zusammen. Seit ihrer Bestellung zur Direktorin in Andorf kommt Silvia Humer zum Unterricht ehrenamtlich nach St. Pius, damit die Gruppe die gewohnte Lehrerin nicht vermissen muss. „Wann geht’s wieder?“, brennen die vier darauf, möglichst bald wieder zum Unterricht zusammenzukommen, wenn einmal – wie erst jetzt – der Unterricht krankheitsbedingt ausfällt.
Ehrgeiz und Talent. Sabine Nemmer hat schon nach vier Jahren die zweite Übertrittsprüfung gemacht. „Faszinierend, wie sie unter lauter Gymnasiasten die bei Gott nicht leichte Theorie-Prüfung schaffte“, erinnert sich Silvia Humer. Beim Wort „Gymnasias-ten“ wirft Sabine Nemmer ein: „furchtbar!“ – „Dass das möglich war, hat mich sehr gefreut“, erinnert sich die Flötenlehrerin. „Mein Anliegen war: nur nicht durchfallen“, erzählt sie, wie sie sich ehrgeizig ins Zeug warf.
Komm, du schöner Mai. Die vier Frauen haben Freude an der Musik und spielen gerne bei Konzerten. Sie üben und lernen gern. Der Montag ist ein ersehnter Start in eine neue Woche. Schon um acht Uhr früh kommt die Gruppe zusammen. Nach der vierwöchigen krankheitsbedingten Unterbrechung ist der Montag in der Karwoche daher etwas Besonderes. Mit Begeisterung übt die Gruppe „Komm, du schöner Mai“, passend zur Frühlingsstimmung, die das schöne Wetter der Karwoche verbreitet.
Die Sprache der Musik. Menschen mit Behinderungen haben oft ein gutes Gefühl für Musik. Auch schwer beeinträchtigte Menschen reagieren intensiv auf Musik. „Sobald sie ein bisschen Gitarre-Geklimper hören, spitzen sie die Ohren“, sagt Sabine Nemmer. In den 90er-Jahren gab es in St. Pius sogar zwei Tanzgruppen. „Irgendwie ist es gegangen, selbst Spastiker haben daran teilgenommen, erzählt Nemmer und betont: „Wir haben auch den Wechselschritt gelernt!“
Musik, die große Leidenschaft. Musik ist für Sabine Nemmer, die aus einer sehr musikalischen Familie stammt, immer schon eine große Leidenschaft gewesen. Sie spielt hin und wieder Violine und hat Klavier gelernt. Getrommelt hat sie auch. Mit ihren kleinen Fingern ist sie beeinträchtigt, so spielt sie Piccolo- und nicht Altflöte.
Das Gute sehen, nicht die Fehler
„Der Wiederholungsfaktor ist wichtig und die Einstiegsphase, wenn wir zusammenkommen, dauert etwas länger“, sagt die Flötenlehrerin der Gruppe, Silvia Humer. Sonst sieht sie keinen Unterschied für den Unterricht von Schüler/innen mit Beeinträchtigung. „Die Vermittlung ist jedenfalls nicht anders. Auch in der Musikschule arbeite ich mit der Silbensprache.“ Wichtig für ihre pädagogische und persönliche Entwicklung war, dass sie durch den Unterricht der Frauen von St. Pius zum ersten Mal erfahren hat, „wie es sein kann, wenn nicht die Leistung im Vordergrund steht“, im Vordergrund stehen der Spaß, die Freude, wenn Kleinigkeiten gegangen sind, das Zusammenspiel und der schöne Klang. „Das hat mich umdenken lassen. Es ist überraschend, was Tolles herauskommt, wenn die Atmosphäre locker ist und die Fehler nicht so wichtig sind.“ Zu dieser Einsicht kommt man jetzt insgesamt im Musikunterricht. Man misst den Fehlern nicht die Bedeutung zu, sondern sieht das Gute und die Stärken.