„Zivildienst genügt nicht als Begründung für Wehrpflicht“
Am 20. Jänner stimmt Österreich über die allgemeine Wehrpflicht ab. Über die Rolle, die dabei der militärischen Landesverteidigung zukommt, wird zu wenig diskutiert, kritisiert Bischofsvikar Werner Freistetter.
Die Volksbefragung über die Wehrpflicht steht vor der Tür. Warum sollten sich Christen für diese Thematik interessieren? Freistetter: Weil die Volksbefragung – unabhängig davon, wie jemand zur Wehrpflicht steht – eine große Chance wäre, eine seit Jahren weitgehend vernachlässigte Diskussion über die Sicherheitspolitik Österreichs zu führen. Und diese Thematik ist, so denke ich, für Christen von erheblicher Bedeutung, weil es sich hier um Fragen handelt, die das Gemeinwohl in einem umfassenden Sinn betreffen. Und weil es auch darum geht, nach welchen Werten Österreich seine Verteidigungspolitik bzw. seine militärischen Einsätze ausrichtet. Hier macht die christliche Sozialethik doch sehr strikte Vorgaben bezüglich der Rechtfertigung von Gewaltanwendung.
Sie haben es bereits angesprochen: Sicherheitspolitik wird heute sehr umfassend gesehen. So auch im Bericht zur „Österreichischen Sicherheitsstrategie“ der Bundesregierung vom März 2011. Wie bewerten Sie diese Sichtweise? Freistetter: Früher hat man Sicherheit vor allem militärisch definiert, also als Sicherheit vor Angriffen eines anderen Staates. Aber als ich um das Jahr 2000 als Mitglied der Delegation des Hl. Stuhls an den Beratungen der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) teilnahm, ging man bereits von einem sehr viel weitgehenderen, umfassenderen Sicherheitsbegriff aus. Es ist heute internationaler Standard, dass Fragen der wirtschaftlichen Sicherheit, der sozialen Sicherheit, der ökologischen Sicherheit, der Sicherheit des Einzelnen oder Fragen der Menschenrechte Teil einer umfassenden Sicherheitsstrategie sein sollten. Ich begrüße diese Entwicklung, weil sie der Realität der globalen Vernetzung entspricht, etwa wenn wir erleben, wie durch Nahrungsmittelspekulationen der Industrieländer Hungerrevolten in Afrika provoziert werden. Ich denke, dass zu dieser weit über die militärische Sicherheit hinausgehenden Sichtweise die katholische bzw. christliche Soziallehre einen wichtigen Beitrag geleistet hat. Ich erinnere nur an die Friedensenzyklika von Johannes XXIII. (1963) oder an „Populorum progressio“ von Papst Paul VI. (1967), die mitten im Kalten Krieg das Wettrüsten auch als Raub an den Armen verurteilt hat und festhielt: „Entwicklung ist der neue Name für Frieden“.
Was heißt das nun für Österreich? Freistetter: Dass wir im eigenen Land, aber auch auf europäischer und internationaler Ebene eine Politik machen und unterstützen sollten, die dem Gemeinwohl dient, soziale Gerechtigkeit, gute Regierungsführung, Entwicklung und Menschenrechte fördert und friedenssichernde Maßnahmen, etwa durch Vermittlung in Krisen, unterstützt. Ich bedauere es daher sehr, dass Österreich etwa im Bereich der Entwicklungspolitik im hinteren Mittelfeld zu finden ist oder dass unsere Außenpolitik viel von ihrem Engagement und ihrer früheren Reputation, etwa als Vermittler im Helsinki-Prozess der 70er-Jahre, eingebüßt hat. Das hat auch etwas damit zu tun, dass es die Politik verabsäumt hat, die Menschen auf den notwendigen Weg einer umfassenden Sicherheitspolitik mitzunehmen. Unter diesen Voraussetzungen ist es dann auch schwer, den Menschen klarzumachen, warum wir mehr Geld für Entwicklungshilfe oder für friedenssichernde Einsätze des Bundesheeres ausgeben sollten.
Stichwort Bundesheer: Warum brauchen wir das eigentlich noch, wenn wir nur noch von friedlichen Nachbarn umgeben sind? Freistetter: Das mag für Österreich gelten, nicht aber für EU-Europa, an dessen Außengrenzen es zahlreiche wirtschaftliche, soziale oder politische Krisenherde gibt. Es geht heute nicht mehr darum, etwa den Durchmarsch von Truppen des Warschauer Paktes zu verhindern oder wenigstens zu erschweren. Heute liegt – neben verschiedenen Sicherheitsauf-gaben in Österreich wie dem Schutz von wichtigen Infrastruktureinrichtungen vor terroristischen Anschlägen – die Kernaufgabe des Bundesheeres darin, seinen Beitrag im Rahmen der umfassenden europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu leisten. Das ist der Bevölkerung wesentlich schwieriger zu vermitteln als die alte Doktrin von der Verteidigung der Heimat – zum einen, weil es sich dabei nicht um unmittelbare Bedrohungsszenarien in unserer Nähe handelt. Aber auch, weil diese Einsätze viel komplexer sind und die militärische Komponente nur Teil eines umfassenden Programms zur Stabilisierung und Friedensgestaltung in einer Konfliktregion ist. Kritiker sagen, dass die EU-Strategie zu sehr auf die militärische Komponente setzt und zu wenig auf zivile Friedensvermittlung und Prävention. Ist das so? Freistetter: Ich sehe das nicht so. Die EU hat derzeit deutlich mehr zivile Missionen als militärische am Laufen – etwa zur Schulung von Polizeieinheiten oder zum Aufbau eines ordentlichen Rechtssystems. Allein Österreich ist an sieben dieser zivilen Einsätze im Ausland beteiligt. Auf der anderen Seite muss man auch sagen, dass es wohl kaum ein Land riskieren würde, zivile Friedensexperten ohne militärischen Schutz in eine Region zu schicken, wo gekämpft wird, wenn ich nur an die Kriegsphase in Bosnien oder im Kosovo denke. Da braucht es auch die Fähigkeit, im Notfall Konfliktparteien durch die Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt zu trennen. Manchmal dienen militärische Einsätze auch der Vorbeugung. So etwa hat die EU Soldaten nach Mazedonien geschickt, als dort der Konflikt zwischen der albanischen und mazedonischen Bevölkerung zu eskalieren drohte. Ein UNO-Generalsekretär sagte einmal zu den sogenannten Peacekeeping (friedenserhaltenden, friedensstiftenden)-Einsätzen: „Es ist keine Aufgabe für Soldaten, aber nur Soldaten können diesen Job machen.“ Das macht deutlich, wie herausfordernd auch für die Militärs solche Einsätze innerhalb einer umfassenderen Sicherheitsstrategie geworden sind. Und was hat es mit den umstrittenen Battlegroups zu tun, an denen österreichische Soldaten mitwirken? Freistetter: „Kampftruppen“, das klingt sehr kriegerisch. In Wahrheit aber kann man damit sicher keinen Krieg führen, sondern das sind zwei Einheiten von 1500 Mann, die in Krisenfällen rasch eingesetzt werden können – etwa bei Ausbruch eines Bürgerkrieges, bei drohenden humanitären Katastrophen, zur Vorbereitung von UNO-Friedensmissionen oder zur Sicherung der Evakuierung bedrohter Bürger aus Krisenregionen. Das macht die EU auch unabhängiger von der NATO, was ja durchaus im Interesse Österreichs sein müsste. Davon kann man nur schwer eine „Militarisierung“ der EU ableiten, wie das manche tun. Und wie geht das mit der Neutralität zusammen? Freistetter: Mit dem EU-Beitritt und dem Ende des Kalten Krieges hat sich auch Österreichs Neutralität gewandelt. Innerhalb der EU gilt die Solidaritätsverpflichtung im Rahmen der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik und des gegenseitigen Beistandes bei Angriffen von außen. Auch gegenüber der UNO hat Österreich seinen Neutralitätsvorbehalt aufgegeben. Das bedeutet, Österreich kann – vorausgesetzt, das Parlament stimmt zu – an EU- und UNO-Missionen auch mit militärischen Kräften teilnehmen, die Neutralität bezieht sich nur noch auf die militärische Nichteinmischung Österreichs in Kriege zweier Staaten.
Und was bedeutet das für die Ausgestaltung und Organisation des Bundesheeres? Freistetter: Die seinerzeitige Reformkommission unter Helmut Zilk hat das so formuliert: Das Bundesheer soll in der Lage sein, einen effektiven, glaubwürdigen und angemessenen Beitrag zur europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu leisten. Es sollte die Fähigkeit haben, das breite Spektrum der sogenannten Petersberg-Aufgaben zu erfüllen – von Überwachungs-, Vermittlungs- und Sicherungsmaßnahmen bis zum mili- tärischen Eingreifen, um Konfliktparteien zu trennen. Aus dieser Zielsetzung lässt sich allerdings nicht zwingend ableiten, ob wir dafür ein Heer mit allgemeiner Wehrpflicht oder ein Berufsheer brauchen. Das Bundesheer leistet seit vielen Jahren internationale Einsätze, an denen mehrheitlich nicht Berufs-, sondern Milizsoldaten (ehemalige Wehrdiener) beteiligt sind. Und wir haben uns dabei einen guten Ruf erworben. Wichtig ist, dass die Soldaten und die Führungskräfte gut vorbereitet und ausgestattet sind. Andererseits muss man die Wehrpflicht, die ja einen nicht unerheblichen Eingriff in Freiheitsrechte mit sich bringt, gut begründen können. Der Hinweis auf den Katastrophenschutz oder die fehlenden Zivildiener reicht dafür nicht aus.