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„Enteignung“ steht in großen, anklagenden Lettern auf einer Kahlstelle im Wald, unweit eines Schweinemastbetriebs. Jan, der Icherzähler, entdeckt den Schriftzug auf einem seiner Rundflüge, die er regelmäßig in seiner näheren Umgebung unternimmt. Das ist das Hobby des auf den ersten Blick nicht gerade sympathischen Journalisten, der ins Dorf seiner Kindheit zurückgekehrt ist und für ein niedergehendes Lokalblatt schreibt. Warum? Er kennt andere Verhältnisse, hat in Los Angeles gelebt und für renommierte Zeitungen geschrieben. Nun lebt er allein mit seiner Katze im ererbten Haus seiner Tante und stellt an sich selber fest, dass ihm die Leichtigkeit abhandengekommen ist. Doch vorerst schiebt er die Emotions- und Antriebslosigkeit, die sich seiner bemächtigt hat, auf die außergewöhnliche Hitze. Mehr aus Zufall denn aus eigenem Antrieb beginnt er eine Affäre mit der Lehrerin Ines und verdingt sich unter falschem Namen als Hilfsarbeiter am Hof jenes Bauern, Flor mit Namen, der zwar ein ehemaliger Schulkollege ist, ihn aber nicht erkennt. Der Bauer kämpft um sein wirtschaftliches Überleben. Er hat im Zusammenhang mit der Ablöse eines Grundstücks für die Errichtung eines Windparks zu hoch gepokert und wurde „im Interesse der Allgemeinheit“ enteignet.
Kaiser-Mühlecker ist in seinem siebten Roman seinen literarischen Schauplätzen, dem Leben auf dem Land, treu geblieben. Doch diesmal geht es um das Aufeinanderprallen zweier Lebenseinstellungen – um Jans in der großen, weiten Welt erlernte Unverbindlichkeit in allen Lebensbereichen und Flors Kampf um den Erhalt von überkommenen Werten, um politische Machenschaften, geheime Liebschaften und darum, dass Menschen so verschieden gar nicht sind, wenn es darauf ankommt. Kaiser-Mühlecker ist ein höchst genauer Beobachter und hält ein überraschendes Ende bereit.
Reinhard Kaiser-Mühlecker: Enteignung. S. Fischer, Frankfurt/Main 2019, 222 Seiten, € 22,70
„Juliane war der Einfluss des Ortes auf die Entwicklung ihres Bewusstseins bewusst, jenes Orts, an dem Heil und Unheil Tisch an Tisch zur Sommerfrische saßen (und wohl noch immer sitzen).“ Der Ort ist Altaussee und Juliane ist die Hauptperson in Barbara Frischmuths jüngstem Buch, das wohl starke autobiografische Züge zeigt. Denn wie Juliane ist die Autorin 1941 geboren und in einem Hotel in Altaussee aufgewachsen. Anhand von Kindheitsfotos, von der Mutter ererbt und in fünf Schachteln gesammelt, erinnert sich Juliane, vorerst nur „die Kleine“, später „Juli“ und im dritten Teil „Juliane“ genannt, an Episoden ihrer Kindheit, die sich zu einer Familiengeschichte zusammenfügen. Einer Familiengeschichte, die von der Weltgeschichte berührt wird. Der Ort im Gebirge, der vom Salzabbau lebt, war schon lange vor dem Krieg ein Rückzugsort für prominente Sommerfrischler/innen, Künstler/innen und Schriftsteller/innen, die hier Häuser und Grundstücke besaßen. Ab 1938 gab es rund 250 Enteignungen. Die „Sommerfrischler“ wurden andere – hochrangige Nazis, „die Urlaub vom Töten“ machen wollten, und nach 1945 waren es rumänische, bulgarische und ungarische Faschisten und Nazis auf der Flucht. Auch das Hotel der Eltern ist requiriert, und mehrere Familienmitglieder kommen im Krieg zu Tode.
Mit altersmilder Distanz erzählt Barbara Frischmuth über das Heranwachsen eines Kindes, dem man – wie damals nicht nur im Gebirge üblich – kaum etwas erklärt, sondern stattdessen allerhand Unsinn auftischt, das aber, intelligent wie es ist, sich selbst einen Reim macht auf das, was es erlebt und mitbekommt. Auch die Klosterschule, von der Frischmuths gleichnamiger, immer noch empfehlenswerter Debütroman aus dem Jahr 1968 handelt, kommt ein wenig besser weg als damals. Als Vermittlerin brauchbarer Werte jedenfalls.
Barbara Frischmuth: Verschüttete Milch. Aufbau Verlag, Berlin, 2019, 286 Seiten, € 22,–
Lesung mit Barbara Frischmuth in der Buchhandlung Veritas: am Dienstag, 28. Mai wird die Autorin in der Buchhandlung Veritas aus ihrem aktuellen Roman lesen. Beginn: 18.30 Uhr. Anmeldung unter: Tel. 0732 77 64 01.
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