Welche Einsichten haben Sie in Gesprächen mit Sterbenden bekommen?
Alexander Batthyány: Es ist tatsächlich so, dass die Forschung zeigt, dass viele Menschen gegen Ende ihres Lebens weniger Rat brauchen, als man zunächst dachte. Es ist eher so, dass man von ihnen sehr viel lernt, weil sie ein reiches Leben haben, das sie zu Ende führen. Sprich, man hört ihnen einfach zu. Man gibt ein offenes Ohr, ein offenes Herz, die Anwesenheit und die Fähigkeit, es auszuhalten, wenn einmal gar nicht gesprochen wird.
Was haben Sie von dieser Arbeit gelernt?
Batthyány: Die Hauptlektion für mich persönlich ist die, dass am Ende des Lebens die wenigsten Menschen fragen, ob sie ein angenehmes Dasein geführt haben, sondern die meisten fragen, ob sie zu etwas gut waren; ob das, was sie hinterlassen etwas ist, mit dem sie gut sterben können und ob es noch etwas auszugleichen oder zu bereuen gibt.
Welche Geschichten erzählen die Menschen?
Batthyány: Meine Lehrerin, Elisabeth Lukas, erzählt die Geschichte einer Patientin, die im Sterbebett lag. Sie war als junges Mädchen in Berlin in einer reichen Familie aufgewachsen und erlebte das Bombardement der Alliierten mit. Sie hatte von ihrem Vater einen kleinen Hund bekommen, der erst eine Woche bei ihr war, als eine Bombe in den Innenhof des Hauses fiel, die aber nicht detonierte. Der Vater sagte, alle müssten sofort in den Luftschutzkeller, weil das Haus jederzeit in die Luft fliegen könnte. Sie fragte sich, ob sie den Hund mitnehmen soll oder nicht, zögerte, ging auf und ab bis ihr Vater rief, sie müssen jetzt los. Und sie ließ den Hund dort zurück. 80 Jahre später klagt sie nicht darüber, dass die Villa, das Klavier oder andere Dinge weg waren; sie fragt sich nur, ob sie den Hund hätte mitnehmen sollen.
Nach so langer Zeit macht sie sich immer noch Gedanken über ihr Verhalten ...
Batthyány: Ja. Mir ist im Laufe der Jahre klar geworden, die beste Vorbereitung auf einen guten Tod beginnt nicht im Alter, sondern mitten im Leben, im Alltag. Denn eine zentrale Frage hört man von Sterbenden immer wieder: War es gut, was ich gemacht habe? Wozu war ich da? Es geht darum, am Ende auf ein gutes Leben zurückzublicken – aber nicht im Sinne von gemütlich oder bequem, sondern im Sinne von offen ansprechbar, verantwortlich, liebevoll, wohlwollend. Unsere ureigenen Fußspuren, die wir hinterlassen, kann niemand ausradieren und ungeschehen machen. Das bleibt von uns.
Wie geht es Leuten, die auf kein gutes Leben zurückblicken können?
Batthyány: Es ist nie zu spät. Es macht immer noch einen großen Unterschied, ob jemand schuldvoll stirbt und keinerlei Reue zeigt oder ob jemand noch Reue empfunden hat. Das heißt, es sind Wachstumsprozesse möglich bis zum letzten Atemzug. Es gibt ein schönes Bild dafür: Wenn man in einem Raum, der tausend Jahre in Finsternis war, plötzlich ein Streichholz anzündet, ist er im Augenblick hell. Keiner fragt, wie dunkel er war. Es ist nicht die Quantität des Guten, die zählt, es ist die Qualität. Ein Mensch, der sagt, „wie falsch habe ich gehandelt“, der ist einsichtig und damit gleichzeitig klüger und weiser geworden als der, der damals falsch gehandelt hat. Er ist über sich selbst hinausgewachsen. Es ist ein letztes Geschenk an das Leben, Schuldgefühle zuzulassen und zumindest innerlich ein anderer zu werden.
Was bereuen Kranke oder Sterbende?
Batthyány: Der Psychiater und Neurologe Viktor Frankl berichtet von einer begabten Dichterin. Sie war sehr krank und bereute unendlich, dass sie ihre dichterischen Fähigkeiten so brachliegen ließ. Frankl besorgte ihr daraufhin einen Bleistift und Papier. In ihrer kleinen Baracke sah sie von ihrem Fenster aus einen Baum, den sie dann beschrieben hat. Das war ihre Antwort darauf, das Versäumte irgendwie wettzumachen.
Er hat sie aufgefordert, aktiv zu werden ...
Batthyány: Ja. In der Situation dieser Frau hätte kein einfacher Trost geholfen. Das Gewissen in ihr hat gesagt, warum hast du von deinen Fähigkeiten nicht ausreichend Gebrauch gemacht. Die einzige Antwort darauf lautet, dem Gewissen zu folgen und es nicht zu unterdrücken, schönzureden oder schönzudenken.
Wie Sie vorhin schon gesagt haben, die beste Vorbereitung auf den Tod beginnt im Alltag – im Hier und Jetzt zu leben ...
Batthyány: Genau. Jeder Mensch hat ein Gewissen, eine Stimme des Herzens. Und diese gibt uns ein Gespür dafür, was richtig ist. Wir verdrängen den Tod und leben so, als würde es immer so weitergehen, als wäre jeder Tag korrigierbar. Aber das stimmt nicht. Wir haben nicht nur Freiheit, sondern auch Verantwortung. Unser Leben ist begrenzt und ein einmaliges Geschenk. Wir verarmen geistig und seelisch weniger durch das, was wir nicht bekommen, als durch das, was wir nicht geben – Liebe, Wohlwollen, Freundlichkeit, Dankbarkeit. Wie viel Grund zur Dankbarkeit haben die meisten Menschen und sie merken es erst dann …
… wenn etwas Negatives passiert?
Batthyány: Ein sehr guter Freund von mir hat sich beim Schifahren ein Bein gebrochen. Als der Gips nach ein paar Wochen endlich weg war, sagte er, wie wunderschön ist es, normal gehen zu können. Manchmal muss das Leben bedroht sein, damit man merkt, wie dankbar wir sein können. Auch wenn wir den Tod gerne verdrängen, so ist er doch eine gute Erinnerung daran, dass alles unter einem Vorbehalt da ist.
Aber sich das immer wieder vor Augen zu halten ist doch schwer?
Batthyány: Frankl hat gesagt, Glück ist, was einem erspart bleibt. Ich habe Jahre gebraucht, bis ich diesen Satz annähernd verstanden habe. Es ist ein so einfaches Rezept, dankbar zu sein – nicht aus moralischer Verpflichtung oder weil man sich denkt, ich müsste dankbar sein. Nein, wir brauchen uns nur vor Augen zu führen, was alles nicht schiefging, sondern gelungen ist, anstatt nur auf das zu schauen, was man gerne hätte oder glaubt, haben zu müssen. Dann wird uns klar, wie beschenkt wir sind.
Menschen sind oft entmutigt und befinden sich in einem Hamsterrad. Wie kommen sie da raus?
Batthyány: Es gibt kein Allgemeinrezept. Manchmal sind sie sehr mit sich selbst beschäftigt. Auf der Suche nach ihrem Glück, besuchen sie ein Selbsterfahrungsseminar nach dem anderen. Doch gelungenes Leben funktioniert nur mit einer gewissen Offenheit, mit Wohlwollen, mit einem Ansprechbarsein und einem Interessezeigen. In dem Moment, wo etwas interessant oder schön ist, öffnet sich die Tür. Der Philosoph Søren Kierkegaard sagt: Die Tür zum Glück geht nach außen auf, nicht nach innen. Es gibt so viele Menschen, die darauf warten, dass man ihnen ein Lächeln schenkt. Wir leben heute in einer großen Anonymisierung und Vereinsamung. Doch es sind alle wichtigen Ressourcen da und warten darauf, angezapft zu werden.
Was sagen Sie Leuten, die keinen Sinn im Leben finden?
Batthyány: Wenn er im Augenblick nicht da ist, dann spare dich auf, mach dich bereit für den Tag, wo dir Sinnvolles widerfährt, wo du gebraucht wirst. Das ist bereits sinnvoll – halte dich gesund für den Augenblick, wo vielleicht dein Partner, ein Elternteil, dein Kind dich braucht. So banal das klingt: Bring dein Leben auf die Reihe. Ein gelungener Alltag will auch liebevoll, behutsam und freundlich gepflegt sein. Wenn wir das leben, werden wir dadurch auch selbst beschenkt. Jemand der sagen kann, gut, dass ich da bin oder da gewesen bin, der hat keine Selbstzweifel und erlebt auch keine innere Leere. Er nimmt am Leben teil.
Haben Sie die Erfahrung gemacht, dass gläubige Menschen besser mit ihrer Sterblichkeit umgehen können?
Batthyány: Ich bin selbst ein gläubiger Mensch und man muss natürlich aufpassen, bei der Deutung der Befunde nicht voreingenommen zu sein. Mein Eindruck ist aber, dass es gläubigen Menschen leichterfällt, weil sie sich eingebettet wissen. Sie fallen nicht ins Bodenlose, sondern in die Hand Gottes zurück. Das ist ein Bild von der Welt, vom Leben und vom Sterben, das eine unendliche Geborgenheit gibt. Der religiöse Mensch hofft, dass sein Tun in einer gewissen Barmherzigkeit aufgehoben ist. Dass er vom ersten bis zum letzten Augenblick gewollt ist. «
Zum unteren Bild: Außerdem lehrt und forscht er im Bereich Kognitionswissenschaften an der Universität Wien. Seit 2012 hat er eine Gastprofessur für Logotherapie und Existenzanalyse am Universitätsinstitut für Psychologie in Moskau inne. Batthyány leitet das Viktor-Frankl-Institut in Wien und ist Autor zahlreicher Publikationen über Logotherapie und Sterbeforschung.
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