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75 Jahre nach Kriegsende tun wir uns mit der Erinnerung an das Schicksal der Heimatvertriebenen immer noch schwer. Warum ist das so?
Barbara Stelzl-Marx: Zwölf bis 14 Millionen deutschstämmige Menschen waren am Ende bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg von Flucht und Vertreibung betroffen, bis zu einer Million kam ums Leben. Dass diese massenhafte Erfahrung heute wenig erinnert wird, hängt mit der Vorgeschichte, der Politik Hitlers, zusammen. Zudem wurden die Vertriebenen in Österreich häufig nicht mit offenen Armen aufgenommen: Man wollte eine Trennlinie zur großdeutschen Tradition der Vorkriegszeit ziehen. Die Heimatvertriebenen passten da schwer hinein.
Welche Rolle spielten die NS-Verbrechen?
Stelzl-Marx: Als tschechischer Exilpolitiker sprach Edvard Beneš schon in seinen 1941 formulierten Umsiedlungsplänen von kollektiver Bestrafung der Deutschen. Die Verbrechen auf deutscher Seite waren allgemein bekannt. In der Folge wurde wenig zwischen Kollektiv- und Individualschuld differenziert. Die Absegnung der Vertreibungen auch durch die westlichen Alliierten im Potsdamer Abkommen vom August 1945 hat mit dem Schock über die nationalsozialistischen Verbrechen zu tun.
Lassen sich Gewalt und Vertreibungen nur als Folge des Weltkriegs und des NS-Regimes erklären oder gibt es da eine längere Vorgeschichte?
Stelzl-Marx: Nationalismus und Rassismus im 19. Jahrhundert haben für die Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts den Boden aufbereitet. Mit dem Zerfall der Habsburgermonarchie erhielten die Nachfolgestaaten zwar die Selbstbestimmung, aber die deutschsprachigen Minderheiten wie die Sudetendeutschen waren meist nur geduldet. Wenn Minderheiten schlecht behandelt werden, kann das zur Radikalisierung führen. Darauf baute unter anderem Hitlers Expansionspolitik auf. Dann kam der Zweite Weltkrieg. Die deutschsprachigen Minderheiten wurden in der Folge vielfach kollektiv als Verräter gesehen.
Warum tat sich Österreich nach dem Krieg schwer mit der Aufnahme der Flüchtlinge?
Stelzl-Marx: Zu Kriegsende lag die Wirtschaft am Boden, es fehlte an Wohnraum und Lebensmitteln. In Österreich lebten rund 1,6 Millionen „Displaced Persons“ – Menschen außerhalb ihrer Heimat. Knapp eine Million von ihnen waren fremdsprachige Menschen, rund 660.000 waren deutschsprachig. Und es zählten sehr unterschiedliche Gruppen dazu: ehemalige Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge, jüdische „Displaced Persons“ oder deutschsprachige Vertriebene. Letztere blieben in vielen Fällen in Österreich und Deutschland. Die große Anzahl an Menschen überforderte die Verwaltung. In der einheimischen Bevölkerung wurden die Heimatvertriebenen als Konkurrenten im Kampf um die wenigen Güter gesehen. Vertriebene aus meiner Familie bekamen in Bayern zu hören: „Was sind die größten Plagen der Landwirtschaft? – Engerlinge, Schmetterlinge und Flüchtlinge.“
Und wie erging es den Vertriebenen selbst in dieser „kalten neuen Heimat“?
Stelzl-Marx: Neben der Erfahrung von Gewalt und Vertreibung erlebten sie oft einen starken wirtschaftlichen Abstieg. Zum Teil waren das gutbürgerliche Menschen, die in Österreich mit leeren Händen ankamen. Dieser Abstieg war mit dem Wunsch verbunden, sich wieder eine Existenz aufzubauen, ein Haus zu errichten und sei es noch so klein. So entstanden ganze Siedlungen.
Die Beneš-Dekrete und die AVNOJ-Beschlüsse, welche die Vertreibungen legitimierten, hatten politische Auswirkungen bis zur EU-Osterweiterung. Sehen Sie heute einen besseren Dialog?
Stelzl-Marx: Das kann man nur hoffen. Die EU als Friedensprojekt ist ja aus der Erfahrung des Krieges heraus entstanden. Heute gilt es, nationalstaatliche Lösungen, wie wir sie in der Coronakrise sehen, zu überwinden und für wirtschaftliche Sicherheit einzutreten: Sie ist ein Mittel gegen Radikalisierung.
Bischofskonferenzen haben nach dem Zweiten Weltkrieg um Vergebung gebeten. Zwischen Sudetendeutschen, Tschechen und Slowaken ist die katholische Ackermann-Gemeinde um Dialog bemüht. Was ist die Rolle der Kirchen?
Stelzl-Marx: Mit der Haltung, auf Gewalt nicht mit Gewalt zu reagieren, setzen die Kirchen ein Zeichen gegen die Aufrechnung von Verbrechen – und für Versöhnung.
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