„Sozial ist das, was stark macht, und nicht das, was in Abhängigkeit hält“, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz bei der Präsentation des Regierungsvorhabens am vergangenen Mittwoch. Das werden viele Menschen so sehen. Das Problem ist vielmehr die Frage, was stark macht. Da gehen die Ansichten auseinander. Lob auch von einzelnen Vertretern der Zivilgesellschaft gab es jedenfalls dafür, dass bei der Neuregelung später auf Wohneigentum zugegriffen wird (nach drei Jahren statt sechs Monaten). Auch dass die Zuverdienstgrenzen erhöht werden, sieht Martin Schenk, Mitbegründer der Armutskonferenz und stellvertretender Diakonie-Direktor, positiv.
Aber schon bei der Nachricht, dass Behinderte und Alleinerziehende mehr Geld bekommen, differenziert er: „Das gilt für Alleinerziehende mit bis zu zwei Kindern. Darüber stimmt das schon nicht mehr.“ Außerdem solle man nicht übersehen, dass es dabei um den Vorschlag zu einem Rahmengesetz geht, das nur Höchstgrenzen enthält. „Das sind alles ‚Kann‘-Bestimmungen ohne Rechtsanspruch. In einer Fürsorgeleistung bedeutet das alles oder nichts. Es liegt also im Ermessen der Behörde, es gibt einen Verschlechterungszwang und ein Verbesserungsbelieben. Mit der Abschaffung oder Beschneidung der Notstandshilfe bedeutet das, dass stärker sozialstaatliche, statussichernde Leistungen in mehr ‚almosenhafter‘ Fürsorge und Ermessensleistungen überführt werden. Das kennen wir aus England oder aus Deutschland mit Hartz IV“, sagt der Sozialexperte.
Harte Kritik von der Caritas bis zur Diakonie, vom Katholischen Familienverband über die Ordensschulen bis zur Katholischen Aktion gibt es am Umgang mit größeren Familien. Die ursprünglich geplante Obergrenze ist zwar unhaltbar. Aber die neue Abstufung ist drastisch: Für das erste Kind gibt es 215 Euro, für das zweite 129 und für alle weiteren nur mehr 43. Das Argument des Kanzlers für die neue Abstufung lautet: Ein Verkäufer mit 1600 Euro Nettoeinkommen, drei Kindern und einer Frau, die zu Hause bleibt, hat weniger Haushaltseinkommen als die Mindestsicherungsfamilie. Für Martin Schenk passt der Vergleich nicht: „Um vergleichbar zu sein, dürfte die Familie fast kein Vermögen mehr haben, also keinen Bausparvertrag, keine Autos, keinen Schmuck. Wenn dem so ist, hat die Familie aber sofort Anspruch, ihr Einkommen mit der Mindestsicherung aufzustocken.“ Mit der neuen Regelung, so fürchtet Schenk, käme es zu direkten negativen Auswirkungen auf die Gesundheits- und Wohnsituation von Familien und das Wegbrechen von Zukunftschancen für die Kinder. „Bei Gerechtigkeitsbewertungen müssen wir ethisch immer die Folgen mitdenken.“
Eine von der Regierung besonders ins Auge gefasste Gruppe sind Ausländer: Wer als solcher kein EU-Bürger mit einem Arbeitgeber im Inland ist, bekommt frühestens nach fünf Jahren Sozialhilfe. Menschen mit positivem Asylbescheid haben zwar sofort Anspruch auf Mindestsicherung, sollen künftig die volle Höhe aber nur bei entsprechender Integrationsleistung bzw. Arbeitsmarktvermittelbarkeit bekommen. Ohne bestimmte Sprachkenntnisse und Erreichen anderer Vorgaben soll die Mindestsicherung bei Erwachsenen um 35 Prozent gekürzt werden (560 statt 863 Euro bei Einzelpersonen).
Martin Schenk von der Armutskonferenz versteht nicht, warum man vom funktionierenden System in Vorarlberg und Tirol abgeht, wo es umgekehrt ist: Man bekomme zunächst volle Leistungen und müsse mit Sanktionen rechnen, wenn man sich nicht an die Vereinbarung hält.
Auch das Argument des Bundeskanzlers, mit dem neuen System Menschen, vor allem junge Asylberechtigte, in eine Arbeit zu bringen, hinterfragt der Sozialexperte: „Die besten Zutaten für eine geringe Arbeitslosigkeit sind eine gute Konjunktur, Investitionen in personalintensive Wirtschaftsbereiche und gute Unterstützungs- und Qualifizierungssysteme.“ Gerade bei den Unterstützungssystemen wie Arbeitsmarktprojekte oder Integrationsjahr habe man aber viel gestrichen. „Es gibt jedenfalls keinen Beleg dafür, dass ein Senken der Sozialleistungen die Arbeitslosigkeit verringert – eher umgekehrt“, sagt Schenk.
„Sozial ist, was stark macht“, lautet die Devise. Wie das geht, darüber gehen die Meinungen zwischen Regierung und Hilfsorganisationen auseinander.
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