Sozialratgeber
Download hier >> oder Sozialratgeber KOSTENLOS bestellen unter office@kirchenzeitung.at oder telefonisch: 0732 / 7610 3944.
Die Proteste im Iran gegen das menschenfeindliche Zwangssystem der Islamischen Republik werden von den Sicherheitskräften brutal niedergeschlagen. Wie ist die Lage? Wie viele Menschen sind seit den Demos Mitte September ums Leben gekommen, wie viele sind in Haft?
Fr. Schlack: Laut durchgesickerten Dokumenten hat die oberste Militärbehörde die Streitkräfte angewiesen, mit aller Härte gegen die Demonstrierenden auf der Straße vorzugehen: Es wird gezielt mit scharfer Munition, darunter auch Schrotkugeln, auf Menschen geschossen, sie werden durch die Straßen gejagt und verprügelt. Seit Ausbruch der Demonstrationen wurden bislang Zehntausende Menschen festgenommen, Hunderte getötet, Tausende verletzt. Derzeit kennen wir namentlich mehr als 200 Menschen, darunter 30 Kinder, die seit dem Beginn der Proteste getötet wurden. Wir nehmen aber an, dass die Zahlen noch viel höher sind. Bezüglich der Inhaftierten gehen wir nach letztem Stand von 15.000 bis 16.000 Menschen aus. Dazu kommt, dass im Zusammenhang mit den Demonstrationen bisher mindestens 21 unrechtmäßige Scheinprozesse laufen, in denen den Angeklagten die Todesstrafe droht. Zu befürchten ist, dass noch viele weitere Personen davon bedroht sind.
Auslöser der Proteste war der laut Zeugen durch Polizeigewalt herbeigeführte Tod der jungen Kurdin Masha Amini in Teheran. Sie ist von der iranischen Sittenpolizei verhaftet worden, weil sie ihre Haare nicht vorschriftsmäßig mit dem Kopftuch bedeckt haben soll. Zeugen werfen der Polizei vor, Amini verprügelt zu haben. Kurze Zeit später verstarb sie im Krankenhaus. Was hat es mit der iranischen Sittenpolizei auf sich?
Fr. Schlack: Die so genannte Sittenpolizei gibt es seit dem Jahr 2005. Ihre Aufgabe ist es, die Einhaltung der geltenden Kleidervorschriften, u. a. das diskriminierende Zwangsverschleierungsgesetz, zu kontrollieren und gegebenenfalls Frauen, die dagegen verstoßen, festzunehmen. In der Polizeistation werden Frauen darin unterwiesen, wie sie sich korrekt zu kleiden haben, und meist am gleichen Tag wieder entlassen. Die Sittenpolizei kann die Festgenommenen aber auch den Strafverfolgungsbehörden melden.
Es gibt im Iran das berüchtigte Evin-Gefängnis, wo viele politische Gefangene in Haft sind. Im Zuge der aktuellen Proteste wurden auch viele Demonstrierende dorthin gebracht. Was erwartet die Menschen in diesem Gefängnis?
Fr. Schlack: Im Evin-Gefängnis in Teheran sind laut Schätzungen von Menschenrechtsgruppen einige Tausend Personen inhaftiert – genaue Statistiken sind nicht einsehbar. Darunter befinden sich Hunderte gewaltlose politische Gefangene, die willkürlich dort festgehalten werden, weil sie friedlich von ihren Menschenrechten Gebrauch gemacht hatten. Auch zahlreiche Doppelstaatsbürger/innen, darunter die beiden Österreicher Massud Mossaheb und Kamran Ghaderi, sind unter den Gefangenen.
Aus vielen Berichten und Interviews mit Betroffenen und deren Angehörigen wissen wir, dass im Evin-Gefängnis Folter und unmenschliche Haftbedingungen an der Tagesordnung stehen. Im vergangenen Jahr kamen Videoaufnahmen von Überwachungskameras im Evin-Gefängnis an die Öffentlichkeit, die zeigten, wie Gefangene vom Wachpersonal geschlagen, sexuell belästigt und auf andere Weise gefoltert und misshandelt wurden. Erst vor kurzem wurde erneut bekannt, wie brutal die Behörden gegen Inhaftierte vorgehen: Als Mitte Oktober in einem Trakt des Gefängnisses Feuer ausbrach, wurden Tränengas und Metallkugeln auf Hunderte Gefangene abgefeuert und mit Schlagstöcken auf Kopf und Gesicht von ihnen eingedroschen.
Was sagen Sie zum Mut der Leute, vor allem der Frauen, die unter Einsatz ihres Lebens auf die Straße gehen und sich aus Solidarität mit Masha Amini bewusst die Kopftücher abnehmen und sich öffentlich die Haare schneiden?
Fr. Schlack: Ich bewundere all die mutigen Frauen, aber auch Männer und sogar Kinder, die ihr Leben riskieren, um sich solidarisch mit den Opfern zu zeigen und eine längst fällige Änderung des Systems im Iran zu fordern. Viele von ihnen wurden verletzt und gefoltert, manchen von ihnen aus nächster Nähe von Sicherheitsbehörden erschossen, während sie nichts anderes taten, als ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrzunehmen und ihrem Unmut kundzutun.
Ob und inwieweit diese Proteste tatsächlich eine Änderung im Land bewirken, lässt sich für uns derzeit nicht abschätzen. Was wir aber wissen ist, dass die internationale Staatengemeinschaft nicht länger zusehen darf, wie im Iran Menschenrechte mit Füßen getreten werden und die Verantwortlichen nach wie vor straflos bleiben. Deshalb fordern wir z. B. die Einsetzung eines unabhängigen UN-Untersuchungsgremiums, das die Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Stellen bei diesen Demonstrationen und denen der früheren Jahre – allein 2019 starben mehr als 1.500 Personen, Tausende wurden festgenommen – untersuchen, dokumentieren und Handlungsempfehlungen aussprechen soll, um das Klima der Straflosigkeit endlich zu beenden. Unsere Petition dazu haben bereits mehr als eine Million Menschen weltweit unterschrieben. (Infos: www.amnesty.at)
Das System im Iran war ja nicht immer so frauenfeindlich. Es gab z. B. 1963 noch vor der Schweiz 1971 das Frauenwahlrecht. Was steckt hinter dem im Iran angewandten Rechtssystem, der so genannten Scharia, u. a. mit Kopftuchverbot, eingeschränktem Zugang von Frauen zu Universitäten und zu Arbeit und Benachteiligungen von Frauen beim Ehe- und Scheidungsrecht?
Fr. Schlack: Die Islamische Revolution, die 1979 zum Sturz der Monarchie im Iran führte und zur Gründung der Islamischen Republik durch Ayatollah Khomenei, war unter anderem eine Reaktion auf die als zu „westlich“ angesehene Politik von Schah Mohammad Reza Pahlavi, auch bezüglich der Frauenrechte. So verbot er etwa das Tragen des Kopftuchs in staatlichen Einrichtungen und Banken. Die geistlichen Führer nutzten diese Ressentiments gegen den Westen, um sich im Land als Vorkämpfer der Unabhängigkeit zu präsentieren, und setzten dann ihre rigiden Moralvorschriften durch. Diese beruhen auf einer fundamentalistischen Interpretation des Koran, die Frauen als Menschen mit geringeren Rechten ansieht. Dies entspricht aber nicht dem gesellschaftlichen Bewusstsein im Land. Klar ist: Die Menschen im Iran wollen eine Veränderung; und sie wollen Gerechtigkeit.
Zum Foto: Auslöser der Demonstrationen im Iran war der Tod der Kurdin Masha Amini, der laut Zeugen durch Polizeigewalt herbeigeführt wurde. Sie ist verhaftet worden, weil sie ihre Haare nicht nach Vorschrift bedeckt haben soll. Viele Demonstierende schneiden sich deshalb öffentlich die Haare ab.
Sozialratgeber
Download hier >> oder Sozialratgeber KOSTENLOS bestellen unter office@kirchenzeitung.at oder telefonisch: 0732 / 7610 3944.
Erfahrungen aus dem Alltag mit einem autistischen Jungen >>
Jetzt die KIRCHENZEITUNG 4 Wochen lang kostenlos kennen lernen. Abo endet automatisch. >>