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Regina Polak, die österreichischen Bischöfe sagten nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos und in den angrenzenden Zeltstädten klar: Österreich und andere europäische Staaten sollen Familien aus Moria aufnehmen. Gleichzeitig wollen viele Menschen in Österreich keine weiteren Flüchtlinge und wünschen sich eine Abriegelung Europas. Wie lässt sich Hilfe für Menschen auf der Flucht mit den Ängsten vieler Menschen in Europa in Einklang bringen?
Regina Polak: Ich verstehe, dass Menschen in Europa Angst haben. Doch dass Politiker durch ihre Aussagen die Ängste fördern, halte ich nicht für klug. Wenn sich breite Bevölkerungsschichten dafür stark machen würden, dass nicht die Flüchtenden bekämpft werden, sondern die Ursachen ihrer Flucht, gäbe es weniger Grund zur Angst. Da ist viel Luft nach oben in Österreich und Europa.
Wie bekämpft man die Ursachen wirkungsvoll?
Polak: Da ist einmal die Förderung des eigenständigen Wirtschaftsaufbaus sowie die Armutsbekämpfung. Es braucht eine Wirtschaftspolitik mit international solidarischem Horizont. Derzeit geschieht oft das Gegenteil. Afrika wird sozusagen aufgekauft. Wenn beispielsweise ein europäischer Fischkutter in einem Tag so viel Fisch fängt wie ein traditioneller Fischer in 55 Jahren, dann zerstören wir die Grundstruktur. Auch Friedensinitiativen sind elementar. Europa muss sich für den Frieden einsetzen. All dies geschieht bereits, durch die Europäische Union und durch die österreichische Regierung. Warum werden diese Initiativen nicht besser bekannt gemacht? Das würde Hoffnung geben. Politikerinnen, Politiker, aber auch Medien thematisieren lieber Migration als Problem. Weil man damit Angst machen kann?
Wovor fürchten sich Menschen in Europa?
Polak: Es gibt viele gute Gründe, Angst zu haben: Die Klimakatastrophe, die Wirtschaftskriege der Großmächte, nicht zuletzt die Folgen der Corona-Pandemie. Wer über Migration spricht, muss über all das auch sprechen – vor allem über die globale Ungleichheit, die die Migration antreibt. Meine Sorge: Die historische Erfahrung zeigt, dass Gewalt entsteht, wenn die Ungleichheit zu groß wird. Zur russischen Revolution wäre es zum Beispiel nicht gekommen, wenn die massive Armut und das Elend nicht zu lange ignoriert worden wären. Man muss offensiv die Ungleichheit bekämpfen. Sonst wachsen Aggression und Gewalt. Durch Wegschauen oder Abwehr der Armen werden sich die Probleme nicht lösen. Im politischen Bereich heilt die Zeit keine Wunden. Die nächsten Generationen zahlen den Preis.
Was sind also die nächsten Schritte?
Polak: Aktuell sollten zwei Themen entkoppelt werden. Das eine ist die konkrete Situation in Moria. Sich zu weigern, einige Familien aufzunehmen, halte ich für eine Schande! Das andere ist die Herausforderung, eine solide, zukunftsorientierte Migrationspolitik auf die Beine zu stellen. Wer das verwechselt, macht die Menschen in Moria zu mehrfachen Opfern: Die Opfer von Krieg und Armut werden zu Opfern politischer Interessen, zu Opfern von Brandstiftern.
Sollen Brandstifter Recht auf Asyl bekommen?
Polak: Wer auch immer für diesen Brand verantwortlich ist: Brandstiftung ist zu verurteilen. Aber eine Katastrophe dieser Art war absehbar. Das Flüchtlingslager war für 3.000 Personen gedacht, seit Jahren vegetierten dort und in der Umgebung 12.000 Personen dahin. Dass diese Perspektivlosigkeit aggressionsfördernd ist, ist nicht gut, aber nachvollziehbar. Wenn man Menschen jahrelang mehr oder weniger einsperrt, explodiert die Situation irgendwann. Die Katastrophe ist von der europäischen Politik mitverursacht. Nun wird mit der Verweigerung der Aufnahme das Problem zu lösen versucht, das man selbst mitzuverantworten hat.
Wie kann eine echte Lösung aussehen?
Polak: Das, was die Bischöfe und Christen, rechts wie links, sagen, ist im Kern: „Es muss doch möglich sein, dass man in Europa 12.000 Leute aufnimmt und verteilt.“ Ich schäme mich, wenn das nicht möglich ist und frage mich, wie ich das einmal meinen Enkelkindern erzählen soll. Die Migrationspolitik wiederum lässt sich nur gesamteuropäisch angehen. Dafür muss sich auch die Bevölkerung einsetzen. Als ich hörte, wie Innenminister Nehammer im Radiointerview die jetzt obdachlosen Menschen in Moria und Umgebung pauschal als gewaltbereite Migranten bezeichnete, kamen mir die Tränen. Eine solche Verallgemeinerung zerstört langfristig die politische Moral im Land und schürt fremdenfeindliche Vorurteile.
Wie ist das mit christlich-sozialer Politik vereinbar?
Polak: „Christlich-sozial“ ist keine geschützte Marke, auch die Katholische Soziallehre ist auslegungsbedürftig. Der Politikwissenschaftler James Chapel zeigte, dass die Katholische Soziallehre seit den 60er-Jahren zwei Stränge ausgebildet hat. Einen, wie er es nennt, patriarchalen Auslegungsstil, bei dem die eigene Familie und das eigene Land im Zentrum stehen. Und einen solidarisch-brüderlichen Auslegungsstil, der global und solidarisch orientiert ist. Daher gibt es auch nicht nur die eine richtige und wahre christlich-soziale Politik. Aber es gibt No-Gos, und dazu gehört Fremdenfeindlichkeit. Nun gibt es für Migration keine einfachen Lösungen, man müsste innerkirchlich um die Auslegung von „christlich-sozial“ ringen. Nur passiert das leider kaum. Beide Seiten beziehen sich jeweils auf ihren eigenen Auslegungsstrang. Außerdem kennen die meisten Katholiken die vielen Texte und Ideen nicht, die ihre Kirche seit den 50er-Jahren zum Thema Migration vorgelegt hat. Die jährlichen Botschaften zum Weltflüchtlingstag seit 1914 – heuer am 27. September, die Instruktion „Die Liebe Christi zu den Migranten“ aus 2004, das Schreiben „In Christus Flüchtlinge und gewaltsam Vertriebene aufnehmen“ aus dem Jahr 2013 und viele andere. Solche Texte können und sollen in den Gemeinden diskutiert werden.
Es liegt also viel am Wissen über Migration und daran, wie das Thema kommuniziert wird.
Polak: Ja, man könnte auch ganz anders kommunizieren: Wie gut in Österreich Integration funktioniert und funktioniert hat. Auch wenn es noch viel zu tun gibt, wie der jüngste Integrationsbericht zeigt, aber darauf können wir stolz sein! Die politische und mediale Sprache, die die Probleme in den Vordergrund rückt, macht leider viel kaputt. Die Integration der Personen, die nach Europa kommen, spielt eine immens wichtige Rolle für die Zukunft. Wenn wir es in Europa nicht schaffen, mit den Migranten friedlich zusammenzuleben, dann provozieren wir Ablehnung und Zorn, hier und in den Herkunftsregionen. Wenn wir die Migrantinnen und Migranten nicht für uns gewinnen können, erzeugen wir Konfliktlinien. Es ist nicht sinnvoll, Konflikte unter den Tisch zu kehren, sie sind ein Zeichen lebendiger Integration. Aber es geht um die gesellschaftliche Atmosphäre, ob es eine prinzipielle Anerkennung der Tatsache gibt, dass wir längst in einer Migrationsgesellschaft leben. Es macht einen Unterschied, ob die Kinder und Enkel der Zugewanderten in Zukunft erzählen werden: „Das war ein tolles Land, das uns aufgenommen hat“ oder „Das waren furchtbare Jahre, wir waren hier nie willkommen“.
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