Als Migrationsforscherin beleuchten Sie in Ihrem neuen Buch paradoxe, also widersprüchliche Aspekte in Zusammenhang mit dem Thema Flucht. Was wollen Sie damit aufzeigen?
Judith Kohlenberger: Ich vertrete die These, dass die Flüchtlings- und Asylpolitik von vielen Widersprüchen, sogenannten Paradoxien, geprägt ist, die unser derzeitiges Asylsystem aufrechterhalten, weil wir sie im Alltag nicht erkennen. Das System, wie es sich jetzt gestaltet, wird als alternativlos angesehen, was es aber nicht ist. Diese Paradoxien verhindern, dass wir zu einer menschlicheren Asyl- und Integrationspolitik gelangen. Deshalb ist es meines Erachtens wichtig, als ersten Schritt diese Widersprüche – ich drösle sie auf in das Asyl-, das Flüchtlings- und das Integrationsparadox – offenzulegen, dadurch einen anderen Blick auf das System zu bekommen und in einem nächsten Schritt zu einem menschlicheren Umgang mit Flüchtlingen zu gehen.
Welche Widersprüche birgt denn beispielsweise das Asylparadox in sich?
Kohlenberger: Wir haben in Österreich und in den meisten europäischen Ländern derzeit das sogenannte territoriale Asylrecht, d. h. ein Asylwerbender, vor allem aus Drittstaaten, muss bereits auf österreichischem Grund und Boden sein, um hier den Asylantrag stellen zu können. Und wie kommt er dorthin? Indem er die Grenzen nach Österreich noch ohne gültigen Aufenthaltstitel passiert, also „illegal“. Das führt zur Illegalisierung von Flucht und wird nachträglich legalisiert, wenn man dann Asylstatus bekommt. Aber in dem Moment, wo man die Grenze passiert, ist das nicht der Fall. Das ist eine Widersprüchlichkeit. Die anderen beiden Paradoxien betreffen vor allem unsere Erwartungshaltungen an geflüchtete Menschen.
Was konkret wird erwartet?
Kohlenberger: Man gibt vor, bevorzugt ältere Menschen aufnehmen zu wollen, Frauen und Kinder, kleine Mädchen, chronisch kranke Leute, Menschen mit besonderem Betreuungsbedarf – es sind also die Ärmsten, denen man helfen will. Andererseits, und da zeigt sich die Widersprüchlichkeit, sobald die Menschen dann hier sind und ihren Asylstatus bekommen haben, wird eine ganz andere, nämlich entgegengesetzte Erwartungshaltung schlagend unter dem Motto: Integration durch Leistung! Es wird erwartet, dass sich aufgenommene Personen möglichst rasch in den Arbeitsmarkt und ins Bildungssystem integrieren, dass sie zu produktiven Mitgliedern der Gesellschaft werden und sich bei der Integration besonders fit zeigen. Doch die Schwächsten, Schutzbedürftigsten sind nicht zwingend die fittesten. Hier haben wir eine widersprüchliche Erwartungshaltung, die sich unterm Strich nicht erfüllen lässt.
Sie sagen, es braucht grundlegend einen menschlicheren Diskurs in der Flüchtlingsfrage, doch seit der großen Flüchtlingswelle 2015/2016 ist das Gegenteil der Fall ...
Kohlenberger: Ja, seither beobachten wir eine Form der Dehumanisierung, die Einzug gehalten hat. Abschottung, Abschreckung und Auslagerung – ich nenne es die 3A-Asylpolitik – sind die zentralen Strategien, die man auf europäischer Ebene in den letzten Jahren verfolgt hat. Bei Abschottung geht es um Mauerbau im physischen wie auch im übertragenen Sinne durch massiven Grenzschutz. Außengrenzschutz muss aber mit zentralen grundrechtlichen Standards gekoppelt sein. Diese Standards werden derzeit aber nicht eingehalten. Nicht nur in Griechenland, auch entlang der Westbalkan-Route verstoßen viele Länder massiv gegen Menschen- und Grundrechte. Das wird bis dato von der EU kaum geahndet. Doch Grundrechtsverstöße, die derzeit laufend vorkommen, dürfen nicht konsequenzlos bleiben.
Warum kommt es jetzt wieder zu mehr Ankünften von Flüchtlingen auch in Österreich?
Kohlenberger: Erste Analysen zeigen, dass ein Grund dafür nicht ist, dass die Menschen neu nach Europa einreisen, sondern weil unter ihnen z. B. sehr viele Syrer und Afghanen sind, die bereits seit einigen Monaten oder Jahren in Griechenland waren, teilweise dort schon Asyl erhalten haben, aber Griechenland ganz massiv die Unterbringungsstandards, die Grundversorgung komplett nach unten korrigiert hat mit der Absicht, unattraktiv zu werden für Asylwerbende. Das heißt, die Menschen sind dort obdachlos, bekommen keine Wohnung mehr gestellt, wenn sie Asyl erhalten.
Da sind wir beim Punkt Abschreckung.
Kohlenberger: Genau. Was jetzt passiert ist, dass Menschen dort in der absoluten Verzweiflung sind und sich auf eigene Faust über die Westbalkan-Route in Richtung westliche und nördliche EU auf den Weg machen. Das ist eine unmittelbare Konsequenz dessen, dass die EU Griechenland für die Nicht-Einhaltung der Grundrechtsstandards nicht sanktioniert hat.
Wäre alleine das ein Lösungsansatz, um zu mehr Humanisierung beizutragen?
Kohlenberger: Das wäre ein Punkt, wo man konkret ansetzen könnte, dass anerkannt wird, dass es die Menschenrechtskonvention und die Genfer Flüchtlingskonvention (siehe Randspalte) als Rahmenbedingungen gibt, die wir nicht unterschreiten dürfen. Das ist das Fundament, auf dem aufgebaut werden muss. Es fehlt aber meines Erachtens der politische Wille dazu. Das wäre allerdings der erste wichtige Schritt in Richtung menschlicherer Umgang mit Flüchtlingen. Dazu gibt es natürlich viele Maßnahmen, die man anwenden könnte. Konkrete Vorschläge liegen mit dem EU-Migrationspaket seit mehr als zwei Jahren auf dem Tisch, werden aber kaum umgesetzt.
Ich glaube, es ist leicht, einen absolut restriktiven Asylkurs zu fahren und zu sagen, alle Grenzen dicht. Fertig. De facto ist es aber so, dass in Österreich die Menschenrechtskonvention auf Verfassungsrang steht und wir Asylanträge annehmen müssen. Und realpolitisch gesehen ist der österreichische Arbeitsmarkt massiv von ausländischen Arbeitskräften abhängig. Wir stehen da erst am Beginn des demografischen Wandels, das wird weitere Ausmaße annehmen. Selbst Ungarn hat das jetzt erkannt. Wegen eines noch größeren Arbeitskräfteproblems als Österreich wirbt man dort heimlich indonesische Arbeitskräfte an. Auf der anderen Seite betreibt man Pushbacks, also das Zurückdrängen von Migranten von den Grenzen, und schottet sich ab. Auch das ist absolut widersprüchlich.
„Wer klopfet an?“ – das Lied der Herbergssuche von Maria und Josef weist in der heutigen Zeit auf das Schicksal vieler Flüchtlinge. Was die Kirche betrifft, so setzt sie sich immer wieder für geflüchtete Menschen ein. Wie sehen Sie dieses Engagement?
Kohlenberger: Betonen möchte ich, dass dass Recht auf Asylantragsstellung kein Almosen ist, kein Akt der Barmherzigkeit, sondern es ist ein beschlossenes Recht, das eingefordert werden kann. Ich bin ja sehr kritisch am Anfang des Buches, wo ich sage, alles was innerhalb des widersprüchlichen Systems passiert, ist reine Symptombekämpfung. Solange wir aber noch nicht in der Transformation des Systems sind, ist es natürlich ganz wichtig, Symptome zu lindern und dadurch Menschlichkeit an den Tag zu legen. Das ist ein wertvoller Beitrag, denn jedes einzelne Schicksal zählt. Auch wenn wir nicht allen helfen und wir nicht alle retten können, bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass wir niemanden retten können.
Die Migrationsforscherin und Kulturwissenschaftlerin Judith Kohlenberger lehrt und forscht am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien zu Fluchtmigration, Integration und Zugehörigkeit. Im Herbst 2015 war sie an einer der europaweit ersten Studien zur großen Fluchtbewegung beteiligt. Ihre Arbeit wurde mit dem Kurt-Rothschild-Preis 2019 sowie dem Förderpreis der Stadt Wien ausgezeichnet.
Buchtipp: Judith Kohlenberger „Das Fluchtparadox“, Verlag
Kremayr & Scheriau 2022, 240 Seiten, € 24. Das Buch ist in der Vorauswahl für das Wissenschaftsbuch des Jahres 2023. Elodie Grethen_K&S
Migration ist der neutrale Überbegriff sowohl für freiwillige als auch für unfreiwillige Migration. Unter unfreiwilliger Migration versteht man Flucht oder Zwangsmigration. Freiwillige Migration ist z.B. die reguläre Arbeitsmigration mit einem Visum, in Österreich auch „Rot-Weiß-Rot-Karte“ genannt. Im politischen Diskurs hat sich allerdings eingebürgert, dass mit Migration die reguläre Migration gemeint ist und Flucht ganz bewusst separat behandelt wird.
Flüchtling ist der Überbegriff für alle, die in einem Aufnahmeland wie Österreich ankommen. Es gibt anerkannte Flüchtlinge, die bereits Asylstatus haben, im Land bleiben dürfen und als Asylberechtigte österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt sind. Ein Migrant ist jeder, der seinen Wohnsitz aus dem Ausland nach Österreich verlagert hat bzw. der aus seinem Herkunftsland migriert bzw. auswandert (Emigrant) und in ein Aufnahmeland einwandert (Immigrant).
Die Genfer Flüchtlingskonvention legt die rechtlichen Rahmenbedingungen fest, die regeln, wie man in Ländern, die die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert haben (u. a. Österreich), Asyl beantragen kann und nach welchen Kriterien das gewährt wird. Die Genfer Flüchtlingskonvention wurde 1951 verabschiedet aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs heraus, hauptsächlich europäische Flüchtlinge zu schützen. Im Jahre 1967 wurde sie mit einem Zusatzprotokoll ausgeweitet auf alle Menschen weltweit.
Die Europäische Menschenrechtskonvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Mitgliedern des Europarats (darunter Österreich), der einen Katalog von Grundrechten und Menschenrechten enthält. Über seine Einhaltung wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg.
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