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Im Irak erwarten Reisende grüne Wälder, Wasserfälle, vorantike Städte, lächelnde Menschen – und Klöster einer urchristlichen Bewegung.
Wer im Irak in den letzten vier Jahrzehnten 30 Jahre Krieg erlebt hat, ist entweder gestorben, geflüchtet oder traumatisiert – so lauten die meisten Denkmuster zum irakischen Staatsvolk.
Möglichkeiten zu direkten Begegnungen im mesopotamischen Raum gibt es wenige, Ende 2023 sehe ich keine Touristen im Irak, Österreichs Außenministerium rät von solchen Reisen ab.
Dabei ist die Geschichte des Sterbens immer auch eine des Werdens. Nicht alles ist falsch, böse und hässlich. Wunden erblühen, Leiden erstrahlen und auch Sünden tragen oft schon die Gnaden in sich. Alles Leid und Böse verbindet alles Liebe und Gute. Wer diese Vollständigkeit stets mitdenkt, wird sie im Krisenmodus der medialen Berichterstattung über den Nahen Osten vergeblich suchen. Wer sich dennoch dem Fremden hingibt, dem wird neben dem Wahren auch das Schöne und Gute offenbart.
Zugegeben. Lächelnde Menschen konnte ich auf meiner Reise durch den Nordirak kaum fotografieren. Entweder lächelten sie vor oder nach dem Foto, nur nicht für das Foto.
In diesem Wesenszug meinte ich ein Muster festgestellt zu haben. Wo ich auch war, erlebte ich keine formalen Höflichkeiten, nur um soziale Etiketten zu wahren – dafür wahre Herzlichkeit: mitfühlend, warm und liebevoll. Wenn ich durch die Gassen ging, nahmen mich Fremde an der Hand und führten mich in ihr Zuhause, wo sie mir Schlafplatz und Essen mit ihrer Familie anboten.
Ging ich woanders in ein Restaurant, hieß es schon beim Betreten: „Für dich wurde schon bezahlt.“ Diese unvergleichliche Gastfreundschaft bei den arabischen Völkern erhob der Koran einst zum religiösen Dogma.
Dabei geht die Selbstlosigkeit, Großzügigkeit und Offenheit gegenüber Fremden auf eine gemeinsame Legende dreier Weltreligionen zurück: Abraham, dem spirituellen Vater des Christentums, Judentums und Islams. Der aus jenem Mesopotamien stammt, in dem ich mich befand.
Gäste würden hier laut Überlieferung Engel in Menschengestalt sein. Nun, als scheinbar einziger Gast, dann noch mit Namen „Mihael“, hätte man in dieser Logik für einen Moment zum Schluss verleitet werden können, mit dem bedeutendsten Erzengel verglichen zu werden. So schien es zumindest vom Standpunkt der himmlischen Güte mir gegenüber. Zum Glück grüßten sie mich dann aber doch nur mit einem profanen „Hello, Mr. Johnny!“ Warum auch immer.
Zehn Tage reiste ich durch den Irak – mit dem Herzen als Kompass unterwegs. Wenig suchend. Dafür staunend und findend. Gefunden habe ich das grüne Zoragvan-Tal mit sanften Wasserfällen und zauberhaften Fabelwäldern. Oder den unbekannten Dore Canyon – das irakische Äquivalent zum weltberühmten Horseshoe Canyon in den USA.
Nicht gefunden habe ich Minen, mich aber in einem aktiven Minenfeld am höchsten Berg Iraks befunden, wo man erst recht wieder herausfinden musste. Wiedergefunden habe ich mich auch inmitten von 1.000 sich beugenden Muslimen beim Freitagsgebet in der Jalil Khayat-Moschee von Erbil – jener Stadt, die 3.500 Jahre vor den Pyramiden erbaut wurde und seither durchgehend bewohnt ist.
Gesucht habe ich nur die köstlichen Nationalgerichte Masgouf, Qalya Sor und Muhallebi. Was aber noch besser versteckt ist, sind Relikte einer urchristlichen Bewegung.
Nur wenige Kilometer von Mossul entfernt liegt eines der ältesten noch existierenden christlichen Klöster der Welt: das 1.700 Jahre alte und gut getarnte Mor-Mattai-Kloster.
300 Jahre nach der Hinrichtung von Jesus Christus ließ sich der zum Priester geweihte und fortan gejagte Matthäus in einer Berghöhle nieder, wo er streng asketisch lebte. Nachdem er dort zahlreiche „Wunder“ für König und Volk vollbrachte, ließ man ihm ein Kloster errichten. Das aktuellste Wunder: Obwohl hier durch den IS-Krieg vor wenigen Jahren der Bevölkerungsanteil der Christen in der Ninive-Ebene von sechzig auf zehn Prozent schrumpfte, konnte die Front bis auf zwei Kilometer vor dem Kloster gehalten werden.
Im Wunderkloster wurde ich schnell als „Gast“ erkannt. Während ich dem syrisch-orthodoxen Erzbischof Alshamany beim Gebet zusah, winkte mich schon ein arabischer Christ gütig zum Essen herbei und erzählte: „Der IS hat dem Islam wohl noch mehr geschadet als uns Christen“, sagte der Iraker, der vor zehn Jahren nach Melbourne (Australien) flüchtete und im Kloster zwei Wochen kostenlosen Familienurlaub machte. Kostenlos waren hier Unterkunft, Stille und Frieden.
Nur ein paar Hügel weiter, fast anmutend, liegt das Zentrum der jesidischen Religion: das Dorf Lalish. Ich durfte es nur barfuß betreten und entdeckte in höhlenartigen Katakomben einen mit schwarzem Tuch verhüllten Schrein, der angeblich die Kleider von Adam enthält. Erstaunlich, dachte ich. So viele Menschen schauen auf das Gleiche, sehen aber etwas ganz anderes.
Es sind mystische Landschaften im Irak. Wahrheitsgebiete. Glaubensgebiete. Einerseits Wirklichkeit. Andererseits Möglichkeit. Ob Dasein oder Wesen, Leib oder Seele. Eigentlich ist es kein wirklich unlösbarer Widerspruch, das Unbegreifliche zu begreifen. Wer sich das Wissen nicht anmaßt, kann die Einheit finden. Und mit der Weisheit des Herzens das Schöne und Gute entdecken. Auch im Orient.
Der Autor leitet die Stabsstelle Kommunikation der Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz.
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