REZEPT_
Hinter dem Humor steckt die traurige Wahrheit: Was Rotkäppchen im Märchen zur liebevoll sorgenden Enkelin machte, die ihre Oma besucht und ihr feine Sachen im Korb mitbringt, wird hier zur strafbaren Handlung degradiert. Was mich als Papa und Opa in die eigene Realität bringt. Ich vermisse meine Söhne und meine Enkelkinder. Körperlich. Von Angesicht zu Angesicht. Zum Angreifen und Drücken. Natürlich behelfen wir uns mit telefonieren, mit Skype, Whatsapp, Zoom. Aber es ist eben nicht dasselbe. Auch mein Bruder, der mit seiner Lebensgefährtin im Tirol wohnt, fehlt mir. Es ist – bei allem Verständnis für Vorsicht, Sorge und Abstandhalten – eine schwierige Zeit. Wenn man Menschen fragt, was sie denn als erstes tun möchten, wenn Corona vorbei ist, hört man: „Ich möchte meine Enkel umarmen.“, „Ich möchte eine Familienfeier organisieren.“, „Ich werde eine kleine Reise unternehmen“. Ich selbst freue mich auch wieder auf die Beratungen. Sie fehlen mir. Die Sehnsucht nach Nähe wird allerorts spürbar. Und das ist wohl auch gut so. Als (ältere) Eltern, die wir ja offiziell zur Risikogruppe zählen, haben wir auch die Sorge und Fürsorge unserer Kinder und Enkelkinder erlebt. Das war anfangs gar nicht so einfach. „Ihr sollt nicht einkaufen gehen, wir machen das schon für euch.“, „Ja, wollt ihr wirklich mit dem Fahrrad fahren, das ist doch gefährlich jetzt!“ usw. Ihre Sorge um uns fühlte sich gut an, aber wir fühlten uns auch beobachtet, eingeengt, ja fast bevormundet – und das nervte uns. Schließlich kam es auch zu einer klaren Aussprache und seither funktioniert es sehr gut. Wir genießen die Unterstützung wo nötig und die schrittweise wieder gewonnenen Freiheiten. Apropos Freiheit: In dieser Krisenzeit wird uns auch bewusst, was Freiheit bedeutet, dass sie zu unseren wichtigsten Bedürfnissen gehört. Und wie sehr wir uns eingeschränkt fühlen, wenn wir sie nicht haben.
Positiv sehe ich, dass die Verantwortlichen unserer Regierung von Anfang an eine klare Priorität gesetzt haben: an erster Stelle die Gesundheit, dann erst die Wirtschaft, Tourismus usw. Ich lebe gerne in einem Land, in dem diese Wertehaltung gilt – und nicht nur vorgegeben, sondern auch umgesetzt wird. Ich fühle mich als älterer Mensch wertgeschätzt. Man sorgt sich um das Wohl der älteren Generation und ersucht die Jüngeren, auf die Älteren zu achten. Das Wort „Risikogruppe“ birgt aber auch die Gefahr der Stigmatisierung. Hohes Alter lässt den Menschen nicht automatisch zur Risikogruppe gehören. Diese Gruppe schließt auch jüngere Menschen mit Vorerkrankungen ein.
Ich denke an die vielen älteren Menschen, die allein zuhause oder in einem Seniorenheim wohnen und wochenlang keine Besuche empfangen durften (inzwischen gibt es eine Erlaubnis, mit Einschränkungen). Manche verfügen auch nicht über die modernen Kommunikationsmittel und fühlen sich echt isoliert. Unwillkürlich denke ich an meine Mama, die an offener TBC erkrankt war und neun (!) Monate lang in einer Lungenheilstätte in Wien verbringen musste. Isoliert. Mein Bruder und ich – wir waren gerade 10 und 6 Jahre alt – durften sie währen der ganzen Zeit nicht besuchen. Die Ansteckungsgefahr sei zu groß, wurde uns gesagt. Wir konnten – und wollten – es als Kinder damals nicht verstehen. Heute versuche ich mich hineinzuversetzen, was das wohl für unsere Mutter bedeutet haben mochte, wie sie diese Zwangs-Trennung von ihrer Familie erlebt und überlebt hatte. Die Tuberkulose gehörte in den Nachkriegsjahren zu den häufigsten Infektionskrankheiten mit oft tödlichem Ausgang. Es erinnert wirklich an das Covid-19-Virus, konnte aber weitgehend eingedämmt bzw. geheilt werden. Dasselbe hoffen wir bei Corona.
Wir wissen alle nicht, wie lange wir mit dieser Ausnahmesituation zurechtkommen müssen. Aber eines ist gewiss: Wir alle werden aus diesen Erfahrungen lernen, in allen Bereichen. Werte wie Solidarität, Unterstützung, Fürsorge haben eine neue Bedeutung bekommen. Kinder freuen sich wieder auf die Schule, Kleinkinder auf ihren Kindergarten oder die Spielgruppe. Berufstätige freuen sich, wenn sie noch oder wieder zur Arbeit gehen können. Die Familienbande sind gestärkt worden. Die spürbare Sehnsucht nach Nähe kann wieder gestillt werden. Jede/jeder Einzelne spürt, was ihr/ihm wichtig ist – und worauf sie/er auch verzichten kann.
Bildtext: Man sieht sich, aber man kann sich nicht berühren. Der körperliche Kontakt zu den Kindern und Enkelkindern fehlt vor allem den Senior/innen. Viele von ihnen haben überhaupt nur ein Telefon. Sie haben ihre Angehörigen über Wochen nur gehört, nicht einmal gesehen. Mit dem Ende der Einschränkungen soll diese soziale Isolation wieder wegfallen.
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