Wort zum Sonntag
Seit 50 Jahren arbeiten die Hilfskräfte der Organisation weltweit großteils in Krisenregionen und auch in entlegenen Gebieten. Für manche Menschen sind sie „oft das letzte Auffangnetz“, sagt Laura Leyser, Geschäftsführerin von „Ärzte ohne Grenzen“. Nach wie vor ist diese Hilfe dringend nötig.
Laura Leyser ist seit drei Jahren Geschäftsführerin von „Ärzte ohne Grenzen“. Davor war sie u. a. für die Austrian Development Agency und das Britische Ministerium für Internationale Entwicklung (DFID) tätig und setzte Entwicklungsprojekte etwa in Mosambik und Nepal um. Die Wienerin studierte Entwicklungsmanagement, Internationale Entwicklung sowie Sozial- und Kulturanthropologie.
Am 22. Dezember vor 50 Jahren hat alles begonnen. Was war der Auslöser, „Ärzte ohne Grenzen“ zu starten?
Laura Leyser: Man kann sagen, die Gründung ist aus einer Verzweiflung heraus entstanden. Zwei französische Ärzte, Max Recamier und Bernard Kouchner, die während des Bürgerkrieges im nigerianischen Biafra mit dem internationalen Komitee des Roten Kreuzes im Einsatz waren, hatten ein Problem damit, sich an das Schweigegebot zu halten und über Gräueltaten und Missstände nicht sprechen zu dürfen, die sie vor Ort gesehen haben und von denen die Welt nichts wusste.
Also beschlossen sie in Paris gemeinsam mit einer Gruppe von Ärzten und Journalisten eine Organisation ins Leben zu rufen, die bis heute auf zwei Grundpfeilern steht:
Einerseits rasch medizinische Nothilfe leisten für Menschen, die durch Krankheiten, Kriege, Naturkatastrophen, Hungersnöte, Fluchtbewegungen und Epidemien in Gefahr sind.
Andererseits öffentlich Zeugenschaft ablegen und unmenschliche Situationen vor Ort anprangern, wenn es die Umstände erfordern, um Aufmerksamkeit dafür zu schaffen.
Unter dieser Mission zu arbeiten war sicher oft nicht einfach ...
Leyser: Genau, das bringt viele Probleme mit sich. Im schlimmsten Fall kann es sein, dass wir den Zugang zu unseren Patienten/innen verlieren.
Ein Beispiel dafür ist Libyen, wo „Ärzte ohne Grenzen“ seit Jahren in den überfüllten Internierungslagern arbeitet, in denen schreckliche Bedingungen herrschen. Die Missstände vor Ort wuchsen heuer stetig an und es wurde gezielt strukturelle Gewalt angewandt. Da die Sicherheit unserer Teams nicht mehr gewährleistet war, zogen wir uns zurück. Das führte dazu, dass diese Menschen in den Lagern, die nichts mehr haben und für die wir die einzige Unterstützung sind, dann gar keine Hilfe mehr bekamen. Das heißt, in solchen Fällen müssen Entscheidungen sehr vorsichtig abgewogen werden. Nach vielen Wochen der Verhandlungen haben wir es jetzt aber geschafft, dass es zu einer Besserung gekommen ist und wir auch wieder Zugang zu den Menschen haben. Solche Fälle passieren regelmäßig.
Ein trauriger Vorfall war auch die Bombardierung eures Spitals 2015 in Kundus in Afghanistan durch die Streitkräfte der USA ...
Leyser: Ja, mindestens 42 Menschen sind dabei gestorben, sowohl unsere Ärzte/innen als auch Patienten/innen, teilweise während operiert wurde.
Seither kam es immer häufiger zu gezielten Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen und humanitäre Helfer in verschiedenen Ländern – im äthiopischen Tigray, in Syrien, im Jemen, in der Demokratischen Republik Kongo.
Das ist eine große Herausforderung für uns und wir drängen immer wieder darauf, die Regeln des humanitären Völkerrechts einzuhalten.
Wie viele Ärztinnen und Ärzte bieten bei euch medizinische Hilfe an?
Leyser: Insgesamt haben wir rund 65.000 Mitarbeiter/innen weltweit, davon sind 90 Prozent lokal jeweils vor Ort.
Die Hälfte unserer Einsatzkräfte hat ein medizinisches Profil – das sind Ärzte/innen, Psychologen/innen, Hebammen, Krankenpfleger/innen, Krankenschwestern.
Der Rest sind Logistiker, Wasser- und Sanitärmechaniker oder Mitarbeiter/innen im Finanzwesen. In Österreich entsenden wir um die 120 Einsatzkräfte pro Jahr in verschiedenste Gebiete.
Wie ist es euch möglich, in Notsituationen rasch zu reagieren?
Leyser: Die Organisation finanziert sich weitgehend aus privaten, hauptsächlich zweckungebundenen Spenden. So können wir unabhängig von politischen, religiösen und wirtschaftlichen Zwängen ganz unparteiisch und neutral das Recht aller Menschen auf medizinische Hilfe umsetzen und schnell reagieren dort, wo es am dringendsten notwendig ist.
Auch die Logistik hat sich im Laufe der Jahre stark gewandelt. Heute ist es uns möglich, in mehr als 80 Ländern der Welt innerhalb von 48 Stunden vor Ort zu sein. Natürlich gibt es Projekte in abgelegenen Regionen, wo wir Kollegen/innen mit einem kleinen Flugzeug absetzen müssen und es dann vielleicht noch eine zweiwöchige Fahrt mit dem Boot braucht, damit sie zu Menschen gelangen, die sonst keinen Zugang zu medizinischer Versorgung hätten.
Welche künftigen Herausforderungen stehen für die Organisation an?
Leyser: Generell ist zu sagen, es wäre schön, wenn man unsere Hilfe nicht mehr brauchen würde. Doch die aktuellen Nachrichten mit all den Katastrophen, Kriegen und der Corona-Pandemie zeigen eine andere Realität.
Wir haben keinen Grund zu feiern, aber natürlich blicken wir dankbar zurück auf die tolle Arbeit, die unsere Teams geleistet haben und auf die Unterstützung von Spendern/innen, ohne die diese Hilfe nicht möglich wäre.
Große künftige Herausforderungen sind sicher die Auswirkungen des Klimawandels, die sich in den Hot Spots unserer Einsatzgebiete immer häufiger bemerkbar machen – etwa in Teilen des afrikanischen Kontinents unterhalb der Sahara etwa durch Dürren oder in Asien und Lateinamerika durch Wirbelstürme. Und es sind immer die Schwächsten der Gesellschaft, die am stärksten davon betroffen sind.
Wie wirkt sich das aus?
Leyser: Wie sehen, dass Wasserknappheit den Anbau und die Produktion von Nahrungsmitteln gefährdet und dadurch wieder verstärkt Mangelernährung auftritt. Durch Katastrophen wie Überschwemmungen brechen Krankheiten wie die Cholera oder Malaria aus.
Dazu kommt, dass knappe Ressourcen Konflikte befeuern und Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Da sehen wir besorgt der Zukunft entgegen. Was den Klimawandel betrifft, haben wir uns als Organisation dazu entschlossen, unseren Beitrag zu leisten.
So wollen wir in den nächsten Jahren unseren ökologischen Fußabdruck massiv reduzieren und auch verstärkt über die Auswirkungen des Klimawandels sprechen. «
Markante Einsätze von „Ärzte ohne Grenzen“ – ein geschichtlicher Überblick:
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