Wort zum Sonntag
Als sich im Jänner 2010 drei Männer auf den Weg zu Pater Klaus Mertes machten, ahnte niemand, dass sie damit eine nachhaltige Wende in der Kirche einleiten würden. Der Schulleiter des Berliner Canisius-Kollegs nahm sich des Themas Missbrauch an der Schule sofort an und bewirkte, dass über 100 ehemalige Schüler Übergriffe meldeten. Auch von anderen kirchlichen und nichtkirchlichen Schulen traten Absolvent/innen auf und berichteten von sexualisiertem Machtmissbrauch oder anderen Formen der Gewalt.
Der Funke sprang bald auf Österreich über, immer mehr Menschen trauten sich, über ihre erschütternden Erlebnisse zu erzählen. Bereits 1995 und 1998 hatte es hier öffentliche Auseinandersetzungen über die Taten Kardinal Hans Hermann Groers gegeben. Doch erst jetzt, 2010, begann sich das Verständnis grundlegend zu ändern – dass die Kirche als System es Tätern erleichtert, sich Zugang zu Opfern zu verschaffen. Dass der hohe moralische Anspruch gleichzeitig eine Doppelmoral fördert, die die Täter schützt. Und dass dagegen nur eines hilft: Transparenz. Ein öffentliches Schuldbekenntnis im Wiener Stephansdom mit Kardinal Christoph Schönborn und vielen kirchlichen Verantwortungsträgern formulierte bereits am 31. März 2010: „Es ist Schuld Einzelner; es ist Schuld geronnen in Strukturen, Verhaltens- und Denkmustern; es ist Schuld aus unterlassener Hilfe und nicht gewagtem Widerspruch.“
Wer über geschehenes Unrecht durch Kleriker spricht, schadet der Kirche nicht, sondern hilft ihr. Diese Einsicht setzt sich in den folgenden Jahren langsam durch, zumindest theoretisch. Praktisch müssen es alle Beteiligten erst lernen. Zu selbstverständlich galt missverstandene Ehrfurcht vor dem Amt als katholische Tugend. Dass Ehrfurcht vor dem Amt nicht heißt, die zu schützen, die es und vor allem ihre Mitmenschen missbrauchen, ist ein Lernprozess, der auch 2020 nicht abgeschlossen ist. „Es ist uns bewusst, dass die Bemühungen um Schutz vor Gewalt und Missbrauch niemals als abgeschlossen betrachtet werden können“, stellen Kardinal Christoph Schönborn und Bischof Klaus Küng in der Rahmenordnung der Bischofskonferenz fest, die Maßnahmen gegen Missbrauch und Gewalt festlegt.
Mittlerweile haben alle österreichischen Diözesen Strukturen geschaffen, die den Lernprozess aktiv unterstützen. Sie heißen „Kontaktstelle für Gewaltprävention“, „Stabsstelle für Missbrauchs- und Gewaltprävention“, „Stabsstelle für Kinder- und Jugendschutz“ oder so ähnlich. Die diözesanen Präventionsstellen, die neuen Übergriffen vorbeugen sollen, sind miteinander vernetzt und arbeiten mit den Ombudsstellen zusammen, die Ansprechpartner für Opfer und Verdachtsfälle sind, sowie mit den Kommissionen, die für Konsequenzen zuständig sind. Alle diese Stellen treffen sich im November 2020 in Wien zur zweiten Fachtagung seit 2017.
Die Präventionsstellen bilden Menschen fort, die in der Kirche mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben. „Unsere Arbeit, die ein sicheres Umfeld für Kinder schaffen soll, hat zwei Standbeine: Information und Wahrnehmungsschulung“, erklärt Wolfgang Hammerschmid-Rücker, Geschäftsführer der Katholischen Jungschar und Präventionsbeauftragter in Salzburg. Information etwa darüber, was Missbrauch ist. Von Missbrauch spricht man, wenn Erwachsene die Nähe zu Kindern, Jugendlichen und Schutzbedürftigen in der Seelsorge nützen, um ihre Bedürfnisse nach Sexualität oder nach Macht und Dominanz auszuleben, mit oder ohne Körperkontakt. Jede Form des unfreiwilligen Körperkontakts ist ein Übergriff. Das heißt nicht, dass jeder Körperkontakt zu meiden ist. Wichtig ist, dass Kinder und Jugendliche selbst über ihre Grenzen bestimmen können und dass auch die Erwachsenen ihre eigenen Grenzen schützen.
Dabei soll das zweite Standbein helfen, die Wahrnehmungsschulung. Sie soll Sicherheit im Handeln bringen. „In Beispielen, die Teilnehmende selbst einbringen, und mit körperlichen Übungen suchen wir in den Workshops die Balance zwischen Nähe und Distanz. Wer sich einmal damit auseinandergesetzt hat, ist achtsamer und traut sich leichter über Grenzverletzungen zu sprechen.“ Dabei geht es nicht immer gleich um Gewalt, sondern auch um Nuancen. Etwa, ob es bei der Krankensalbung intimer ist, die nackte Hand zu berühren oder die Schulter, die von Kleidung bedeckt ist. Die Workshopgruppen sind in Größe und Zusammensetzung ganz unterschiedlich. Seminaristen oder Novizengruppen, Lehrerinnen an kirchlichen Schulen, Mesner, Jungscharleiterinnen und viele andere beschäftigen sich im Rahmen ihrer Ausbildung oder einer Fortbildung mit Gewaltprävention.
„Das Ziel unserer Arbeit ist die Kirche als möglichst sicherer Ort für Kinder und Jugendliche“, sagt Präventionsbeauftragter Hammerschmid-Rücker. „Das gelingt, wenn respektvoller Umgang selbstverständlich wird und wenn es ein offenes Klima dafür gibt, genau hinzuschauen und ungute Gefühle oder Erlebnisse an- und auszusprechen.“ Die Kontaktadressen der Präventionsstellen und der Ombudsstellen finden sich neben vielen Informationen unter ombudsstellen.at. «
Bild: Geli Hechl und Wolfgang Hammerschmid-Rücker gehören zum fünfköpfigen Präventionsteam in Salzburg. Workshops halten immer zwei Teammitglieder gemeinsam. In allen Diözesen Österreichs gibt es Präventionsbeauftragte, deren Arbeit unterschiedlich dotiert ist. Ihr gemeinsames Ziel: Die Kirche zu einem sicheren Ort für alle zu machen.
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