Wort zum Sonntag
Die Themenvielfalt in Dostojewskis Werken ist groß. Welche Rolle spielt dabei die Religion?
Wolfgang Palaver: Dostojewski ist ein Schriftsteller im klassischen Sinn, der alle Bereiche des Lebens anspricht, sei es die Liebe, die Politik, der Nationalismus, die Geldgier oder Kirche und Staat. All diese Themen kommen bei ihm sehr lebensnahe ins Spiel und er bringt sie auch immer wieder mit Glaube und Religion in Verbindung. Wenn man sich seinem letzten und vielleicht größten Roman „Die Brüder Karamasow“ ausführlich widmet, hat man auch die zentralen Glaubensthemen und die Grundlagen und -fragen des Christentums am Tisch.
Dostojewski verbrachte vier Jahre in einem Straflager. Auf dem Weg dorthin soll man ihm ein Neues Testament geschenkt haben, in dem er immer wieder las. In seinen Romanen zitiert er auch oft Stellen daraus. Das Neue Testament war für ihn offensichtlich sehr wichtig ...
Palaver: Ja, er hat sich ganz tief mit den wesentlichen Fragen des Glaubens und auch mit den biblischen Texten auseinandergesetzt. Das Motto, das er dem Werk „Die Brüder Karamasow“ voranstellt, ist das biblische Wort vom Weizenkorn aus dem Johannesevangelium 12,24: „Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es alleine; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“ Und wenn man der stark religiös-kirchlichen Legende „Der Großinquisitor“ nachgeht, die ein Kapitel im Roman „Die Brüder Karamasow“ ist, merkt man, sie basiert auf der Versuchung Jesu oder auf Teile aus apokalyptischen Texten. Das heißt, im Hintergrund gibt es eine ganz starke biblische Grundierung. Sein Romanwerk nimmt Bezug auf seine Welt damals, aber durchaus auch auf die moderne Welt und welche Bedeutung diese biblischen Texte im Hinblick darauf haben können. Insofern ist Dostojewski sicher einer, der versuchte, das Christentum im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert neu zu denken. Und er spricht das auf eine Weise an, die auch uns heute immer noch etwas zu sagen hat.
Heißt das, Dostojewski ist nach wie vor populär?
Palaver: Ich glaube schon. Momentan in der Covid-Krise wird immer wieder auf den Traum von der Plage im Roman „Verbrechen und Strafe“ hingewiesen. Darin träumt eine Person, dass aus Asien ein Virus kommt, der die ganze Welt ergreift und die Leute dann gewalttätig werden. Wenn man derzeit von Diskussionen über und Warnungen vor einem Impfnationalismus hört und liest, wo es um nationale Interessen bei der Verteilung des Corona-Impfstoffes geht, obwohl er weltweit gerecht verteilt und erschwinglich zur Verfügung stehen muss, dann ist dieser Traum hochaktuell. Oder die Themen Nationalismus und Religion, die er ebenfalls in seinen Werken aufgenommen hat. Im Roman „Böse Geister“ gibt es die Figur des Schatow, der sagt, Gott muss in einem Volk verkörpert sein. Schatow glaubt gar nicht an Gott, aber daran, dass das Volk zum Gott erhoben und das Volk erstrangig sein wird. Wenn man das heute liest im Hinblick auf die Debatten von „America First“, also „Amerika zuerst“, oder ähnlichen Themen in anderen Ländern, ist auch das brisant. Dostojewskis Werke wurden in viele Sprachen übersetzt. Seine großen Romane wie „Die Brüder Karamasow“ oder „Verbrechen und Strafe“ werden heute weltweit gelesen und es gibt immer wieder neue Artikel zu seinem Schaffen.
Sie haben vorhin die Legende vom „Großinquisitor“ erwähnt. Darin wird eine Person gefangengenommen, bei der es sich um den wiedergekommenen Christus handelt. Was sagt diese Legende konkret aus?
Palaver: Hier spielt ein Thema eine interessante Rolle, das im Christentum des 20. und 21. Jahrhunderts oft verdrängt ist: Die Hoffnung, dass Christus sehr bald wiederkommt. Am Beginn des Christentums war diese Hoffnung jedoch groß. Das zeigt sich sowohl an den biblischen Schriften und dem christlichen Ruf „Maranatha“ – „Komm bald wieder“ –, als auch in der Vater-unser-Bitte – „Dein Reich komme“. Für Dostojewski ist die Frage wichtig, was es heißt, wenn Christus wiederkommen würde. In der Legende spielt er das aus. Es ist die Zeit der Inquisition, in der viele Menschen hingerichtet wurden. Der Großinquisitor ist eine ordnungsliebende, die Welt verwaltende, politisch-religiöse Machtperson. Er rechtfertigt sich gegenüber Christus, der verhaftet und in den Kerker gesperrt wurde, warum es diese von der Kirche errichtete Ordnung und die Inquisition gibt. Christus selbst sagt in dieser Legende gar nichts. Er horcht nur dem langen Monolog des Großinquisitors zu, der ihn dann entlässt und zu ihm sagt, er solle verschwinden, diese Ordnung nicht stören und nicht mehr wiederkommen. Diese Stelle finde ich auch ganz aktuell.
Woran denken Sie da?
Palaver: Verfolgt man jetzt in Österreich die Flüchtlingsdebatte, dann kann ich mir gut vorstellen, dass es auch in den Behörden und in der Regierung Leute gibt, die froh wären, wenn die Bischöfe und andere christliche Vertreter, die sich für Flüchtlinge einsetzen, den Mund halten, weil sie natürlich stören. Genau das spielt sich in der Legende ab. Der Großinquisitor öffnet Jesus die Tür und sagt zu ihm: „Geh und komm nicht wieder – komm überhaupt nicht mehr, komm niemals.“ Das ist genau das Gegenteil von der frühchristlichen Sehnsucht, eine radikale Absage an das „Maranatha“, das die Hoffnung auf die baldige Wiederkehr Jesu Christi ausdrückt. Dostojewski beschreibt hier ein Christentum, das den Impuls Jesu nicht mehr brauchen kann, weil das zu Unruhe führt.
In seinen Werken zeichnet Dostojewski oft sehr extreme Charaktere. Viele Schriftsteller und auch Psychotherapeuten wie Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud oder Alfred Adler haben sich damit auseinandergesetzt und waren beeindruckt davon. Wie sehen Sie das?
Palaver: Dostojewski ist der Psychologie von uns Menschen stark nachgegangen – bis hinein in die Abgründe. Eines seiner berühmtesten Werke ist die kurze Geschichte „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“. Darin beleuchtet er, wie ein Beamter, der sich von anderen beleidigt und herablassend behandelt fühlt, danach seine Aggressionen und Erniedrigungsgefühle an anderen, tiefer stehenden Menschen auslässt, in dem Fall an einer Prostituierten. Das ist eine beeindruckende Geschichte, in der man sehr gut solche Ressentimentgefühle nachvollziehen kann. Die verschiedenen Charaktere nicht nur in seinen großen, sondern auch in seinen kleineren Werken hat er mit einer ausführlichen psychologischen Genauigkeit und Feinfühligkeit beschrieben. Für mich gehört Dostojewski zum großen Kanon der Weltliteratur.«
Der russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski wurde am 11. November 1821 in Moskau geboren. In der Familie – der Vater war Arzt, die Mutter stammte aus einer Kaufmannsfamilie – spielte der russisch-orthodoxe Glaube eine große Rolle. Dostojewski hatte sieben Geschwister. Von 1838 bis 1843 studierte er an der Militärakademie in St. Petersburg Bauingenieurswesen. Sein erster Roman „Arme Leute“, den er 1844 veröffentlichte, wurde ein großer Erfolg. Wegen seiner Kontakte zu revolutionären Gruppierungen ist er 1849 zum Tod durch Erschießen verurteilt worden. Seine Strafe wurde aber direkt auf dem Richtplatz abgeändert zu vier Jahren Zwangsarbeit in einem Straflager und zu sechs Jahren Militärdienst in Sibirien. 1859 kehrte er nach St. Petersburg zurück. Wegen seiner Spielschulden lebte er auch mehrere Jahre in Deutschland und der Schweiz. Dostojewski war zweimal verheiratet, hatte einen Stiefsohn und vier leibliche Kinder, von denen zwei im Kindesalter starben. Neben zahlreichen Novellen, Erzählungen und Texten schrieb Dostojewski neun Romane. Zu seinen Hauptwerken, die heute Teil der Weltliteratur sind, zählen „Schuld und Sühne“, „Der Spieler“, „Der Idiot“, „Die Dämonen“, „Der Jüngling“ und „Die Brüder Karamasow“. Dostojewski, der unter Epilepsie litt, starb am 9. Februar 1881 in St. Petersburg. Er war nicht nur ein bedeutender Schriftsteller, sondern auch ein herausragender Psychologe der Weltliteratur.
Bild: Der Theologe Wolfgang Palaver ist Professor für Christliche Gesellschaftslehre am Institut für Systematische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. Der Tiroler Sozialethiker ist zudem Präsident von Pax Christi Österreich. Derzeit hält sich Palaver in Südafrika auf und forscht dort zu Gandhis Gewaltfreiheit. Privat
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