Wort zum Sonntag
Es sind oft die kleinen Dinge, die das Fass zum Überlaufen bringen. So war es auch im Libanon. Der Auslöser der massiven Proteste gegen die korrupte Regierungsführung, die im Oktober 2019 in Beirut begonnen haben und nach wie vor anhalten, war eine von der Regierung verordnete WhatsApp-Steuer.
Im Libanon gibt es rund 5,5 Millionen Einwohner; in aller Welt verstreut geschätzte 15 Millionen Auslandslibanesen. „Um mit den Verwandten oder Freunden im Ausland zu kommunizieren, besitzt fast jeder Libanese ein Smartphone und WhatsApp, obwohl das libanesische Telefonnetz sehr teuer ist. Aufgrund der schwierigen Lage im Land beschloss die Regierung eine monatliche Abgabe auf WhatsApp-Telefonie zu erheben. Das war eine reine Geldbeschaffungsmaßnahme, eine Abzocke. Da hatten die Leute die Nase voll und sind auf die Straße gegangen“, erläutert Stefan Maier, Nahost-Experte und Projektkoordinator des christlichen Hilfswerks ICO. Unterschiedliche Glaubensgemeinschaften wie Christen und schiitische und sunnitische Muslime protestierten dabei geeint, Seite an Seite.
Es gibt eine Vielzahl an Problemen im Libanon, die sich über Jahre zugespitzt haben. Korruption, Misswirtschaft, Arbeitslosigkeit, Armut, unzureichende Müllabfuhr und Stromversorgung, fehlende Infrastruktur, Belastungen im Gesundheits- und Schulwesen, Flüchtlingswelle und ein Bankensystem, das am Rande des Zusammenbruchs steht. Stefan Maier, der beruflich oft in den Libanon reist, kennt das Land und die Menschen. „Unsere lokalen Projektpartner vor Ort, mit denen ich seit Jahren zusammenarbeite, haben immer wieder gesagt, dass es früher oder später zum großen Knall kommen müsste.“ Die wirtschaftliche Lage sei immer schon desolat gewesen, sagt Maier. Das Land, das kaum über Bodenschätze verfügt, lebte früher vom Bankenverkehr und galt als Bankenzentrum des Nahen Ostens. „Diese Rolle ist mit dem Bürgerkrieg – 1975 bis 1990 – verloren gegangen und konnte trotz Versuchen nicht zurückerobert werden. Übrig blieb der Tourismus, der allerdings dann nach Ausbruch des Krieges im Nachbarland Syrien gewaltig eingebrochen ist.“
Die Auswirkungen der katastrophalen Zustände auf das tägliche Leben der Menschen sind dramatisch. So wurde, weil keine Devisen im Land sind und es an finanziellen Mitteln fehlt, die Geldausgabe eingeschränkt. „Egal, wie viel Geld jeder Kontoinhaber im Libanon auf der Bank hat, pro Woche und Bank werden maximal zwischen 300 und 500 Dollar ausgezahlt. Das mag für Einzelpersonen noch reichen; für eine Familie wird es schon schwieriger; aber für Institutionen wie Schulen geht das nicht mehr. Das Land ist am Rande des Staatsbankrotts und in einer desaströsen Lage. Man fürchtet, dass es deshalb zu Treibstoffknappheit kommen und der Strom immer weiter rationiert wird.“ Ein anderes Problem sei laut Maier, dass junge Leute keine Zukunftsperspektiven haben. „Eine Universitätsausbildung kostet viel Geld. Wer es doch schafft, bekommt aber nach Abschluss des Studiums keinen Job oder eine schlecht bezahlte Arbeit, die der Ausbildung nicht entspricht. Das fördert die Abwanderung.“
Eine massives Übel für die Menschen stellt vor allem die politische Kaste dar, die durch und durch korrupt ist. Im Libanon hatten die einflussreichen politischen Positionen immer wenige Familien inne, die sich untereinander die Posten zugeschoben haben. „Minister ist man geworden, weil man dann Geld in die Tasche stecken oder an Familienmitglieder verteilen konnte – ohne Konsequenzen. So sind Milliarden an Geldern gestohlen und ins Ausland verschoben worden“, erzählt der Libanon-Experte.
Das Land ist auch enorm belastet im Hinblick auf die Flüchtlings-Situation. „Der Krieg in Syrien hat zur größten Flüchtlingstragödie der modernen Geschichte geführt. Noch nie seit Ende des Zweiten Weltkrieges sind in so kurzer Zeit so viele Menschen geflohen oder vertrieben worden wie in Syrien“, sagt Stefan Maier. Von dieser Flüchtlingstragödie habe der Libanon als winziges Nachbarland – mit 10.452 Quadratkilometern kleiner als Oberösterreich – einen riesigen Anteil abbekommen und laut libanesischer Regierung 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen, erläutert Maier. Und das seien nicht die einzigen Flüchtlinge im Land, merkt der ICO-Mitarbeiter an. „Seit Jahrzehnten leben dort auch eine halbe Million Palästinenser, zehntausende irakische Flüchtlinge und bis zu 300.000 ausländische Gastarbeiter aus afrikanischen und asiatischen Ländern.“
Fremdenfeindliche Exzesse gab es zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Flüchtlingen zwar kaum, allerdings kam es mit der Zeit zu einem Verdrängungswettbewerb auf dem Arbeitsmarkt. Auch wenn die Flüchtlinge offiziell nicht arbeiten dürfen, mussten sie inoffiziell trotzdem Geld verdienen, um zu überleben, denn die internationale Hilfe war und ist völlig unzureichend wegen der gewaltig großen Flüchtlingszahl. Aus eigenen Erfahrungen in seinem Bekanntenkreis weiß Stefan Maier, dass immer mehr Libanesen ihre Arbeit verloren haben – entweder wegen der allgemeinen schlechten wirtschaftlichen Lage oder weil sie ausgetauscht wurden gegen billigere syrische Arbeitskräfte. „Firmenschefs haben das ausgenutzt.“
Im Alltag wirkte sich das dann u. a. so aus: Wenn ein libanesischer Familienvater arbeitslos wurde, konnte er z. B. das Schulgeld für seine Kinder nicht mehr zahlen. Vor allem die von Ordensgemeinschaften geführten Privatschulen, die die Stütze des libanesischen Schulwesens sind, befinden sich dadurch in einer gewaltigen Klemme, da die Schere immer weiter aufgeht zwischen steigenden Ausgaben und sinkenden Einnahmen. „Oft wird nur mehr ein symbolischer Beitrag verlangt, um auch den Kindern in schwieriger Lage weiterhin eine gute Schulausbildung bieten zu können“, erzählt Maier. Richtig problematisch werde es aber, wenn Renovierungen anstehen, denn dazu fehle dann das Geld. „Das bekommen wir zu spüren, weil wir mit verschiedenen Ordensgemeinschaften wie den Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul oder den Schwestern vom Guten Hirten zusammenarbeiten.“ Im Februar macht sich Stefan Maier wieder auf den Weg zu den Projektpartnern im Libanon. Unterstützung bietet der ICO u. a. für bedürftige Schüler/innen, deren Familien mit der Bezahlung des Schulgeldes überfordert sind, für die Sanierung von Schulgebäuden oder bei Bedarf an Medikamenten oder Heizmaterial.
Als die Proteste im Oktober 2019 begannen, war Stefan Maier ebenfalls vor Ort. „Aufgrund der Proteste und Straßenblockaden an allen neuralgischen Punkten konnte man sich im Land praktisch nicht mehr fortbewegen. Der Druck auf die Regierung wurde immer größer, bis sie zurücktrat.“ Nun gibt es seit vergangener Woche eine neue Regierung. Stefan Maier hofft, dass sie aus Experten besteht, wie vom Volk gefordert, „alles andere wäre ein Schlag ins Gesicht der Demonstranten. Der Libanon erlebt eine ständige Abfolge von Kriegen, Krisen und Katastrophen. Die Menschen sind müde geworden und sehnen sich nach Frieden und Stabilität. Leider gibt es viele Fragezeichen. Es bleibt zu wünschen, dass das Land endlich zur Ruhe kommt. Der Libanon hat so viele ausländische Flüchtlinge, wenn da die Lage eskaliert, mag man sich gar nicht ausdenken, welche Flüchtlingswellen damit ausgelöst würden.“ «
- www.christlicher-orient.at
Bild: Stefan Maier ist Projektkoordinator beim Hilfswerk ICO – Initiative Christlicher Orient. Immer wieder reist er in die Länder des Nahen Ostens, darunter in den Libanon und nach Syrien, und bringt langjährige Erfahrungen mit in der humanitären Hilfe und Projektarbeit.
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