Wort zum Sonntag
Was hat Sie auf den Gedanken gebracht, eine Wohngemeinschaft für Strafentlassene zu gründen?
Karl Rottenschlager: Hätte ich nicht neun Jahre als So-zialarbeiter im Gefängnis Krems-Stein gearbeitet, gäbe es Emmaus nicht. Damals in den 1970er-Jahren sind 70 Prozent der Gefangenen bei ihrer Entlassung ins Nichts gegangen, hatten weder Wohnung noch Arbeit. Das waren allein aus Stein 550 Personen. Das war der programmierte Rückfall. Nach einem Jahr, nach zwei Jahren habe ich viele wiedergesehen.
Sie haben sich also intensiv bemüht, Haftentlassenen Arbeit und Wohnung zu vermitteln?
Rottenschlager: Das habe ich getan. Einem Justizwachebeamten gegenüber, der von meinem Einsatz, aber auch den Fehlschlägen wusste, habe ich immer wieder den guten Kern der Häftlinge verteidigt: Sie brauchen eine ausgestreckte Hand, dann schaffen sie es. Da hat er gesagt: Wenn Sie so fest überzeugt sind, dass diese „Gfraster“ so einen guten Kern haben, dann nehmen Sie sie doch zu Ihnen mit nach Hause. Ich musste schmunzeln. Er hat recht gehabt. Ich hab‘s getan und damit auch vor Gott meinen Weg gesucht. So ist Emmaus entstanden.
Wie ging es dann praktisch los?
Die ersten fünf Versuche etwas Emmaus-Ähnliches zu starten, sind jeweils am Widerstand der Bevölkerung gescheitert. Die Begründung war meistens: Es ist super, was Sie da wollen, aber bitte nicht bei uns. Nichts gegen diese Gemeinden, in jedem Ort Europas ist Ähnliches möglich.
Schließlich hat es in einem etwas heruntergekommenen Stadtviertel in St. Pölten geklappt …
Rottenschlager: Im sechsten Anlauf. Das war 1982. Die Caritas St. Pölten hat mir ein Sozialarbeiter-Gehalt bezahlt und mich zur Gründung von Emmaus freigestellt. Bald haben fünf bis sieben Haftentlassene mitgelebt. Unter ihnen habe ich mein Gehalt aufgeteilt, jeder bekam 30 Schilling pro Tag, also zwei Euro, und dazu Kost und Quartier. Dafür mussten sie hackeln. Da haben wir diese Bruchbude, eine ehemalige Fleischhauerei, so weit saniert, dass wir eine Dusche und ein brauchbares WC hatten. In diesem Haus – inzwischen natürlich mehrmals erweitert – lebe ich noch heute.
Wie finanziert man so ein Projekt? Die Miete, die Baukosten, Betriebskosten, die Verpflegung für rund zehn Leute …?
Rottenschlager: Die ersten 15 Monate gab es keine Subventionen von Stadt und Land. Außer meinem Gehalt haben wir nur von Spenden gelebt. Getragen hat mich mein Freundeskreis, eine Art Bibelrunde. Wir haben versucht, eine materielle und geistliche Gütergemeinschaft zu leben. Dieser Kreis ist die heutige Dienstagsrunde.
Können Sie die Idee „Emmaus“ kurz beschreiben?
Rottenschlager: Emmaus steht in Anlehnung an die biblische Erzählung von den Emmausjüngern für eine Weggemeinschaft mit den Ausgegrenzten der Gesellschaft. Das gemeinsame Wohnen oder Arbeiten, oder beides ist das Um und Auf. Entscheidend ist auch die Tischgemeinschaft, das gemeinsame Essen. Die zwei wichtigsten Dinge sind für uns Liebe und Kompetenz: die Liebe als Grundhaltung, und Kompetenz heißt nichts anderes als professionelle Begleitung unserer Gäste, also der Menschen, die zu uns kommen. Das Ziel von Emmaus ist der liebes- und arbeitsfähige Mensch.
Was ist das Geheimnis von Emmaus?
Rottenschlager: Geheimnis ist zu hoch gegriffen. Im Letzten braucht es Menschen, die glaubwürdig vorleben und vermitteln können, dass die ausgegrenzten Menschen radikal angenommen werden – unabhängig von ihrer Vorgeschichte. Ob jemand von der Straße kommt, vom Gefängnis, aus der Psychiatrie oder Prostitution, wir sagen ihm: Du kriegst alle Chancen. Was vorher war, versenken wir auf der Mülldeponie der göttlichen Barmherzigkeit. Ende. Du kannst völlig neu beginnen. Wenn du das einem Menschen, der vor dir sitzt, sagst, spürst du, wie ein Ruck durch ihn geht.
Von „neu anfangen“ zu reden ist leichter als es zu tun …
Rottenschlager: Natürlich trägt jeder der Gäste die Hypothek seiner Lebensgeschichte mit sich. Alle sind durch viele unsichtbare Fäden an sie gefesselt. Diese Fäden kann man nicht einfach abschneiden. Das braucht solide Begleitung und Treue. Das heißt: Auch wenn es sie zehnmal hinhaut – sie rückfällig werden, ihnen zu sagen: ich bleibe bei dir. Diese Weggemeinschaft bewirkt Unglaubliches. Den Tisch, an dem wir sitzen, hat der Franz gemacht. Erst nach 14 gescheiterten Entwöhnungen ging es wieder aufwärts.
Das Leben mit Menschen, die suchtkrank sind, belastet sind, ist nicht leicht. Das ist ja …
Rottenschlager: … kein Spaziergang. Wichtig ist schon die Professionalität aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Man muss nicht nur allgemein den Glauben an das Gute im Menschen mitbringen, sondern selbst in ein Netz eingebettet sein, wo man auftanken kann, begleitet wird und die Freude am Menschen neu geschenkt bekommt. Ansonsten bist du da chancenlos, wirst du resignativ oder zynisch und hast keine Botschaft mehr.
Gibt es hoffnungslose Fälle?
Rottenschlager: Neben dem Eingang dieses Hauses steht in der Auslage in großen Buchstaben geschrieben: Wenn andere dich fallen lassen, wir fangen dich auf. Die Gesellschaft, die Verwandtschaft lässt dich sehr rasch fallen, wenn du einen Bolzen gebaut hast. Fehlverhalten aller Art wird in der Gesellschaft rigoros geahndet. Unser Anspruch ist, dass es keinen hoffnungslosen Fall gibt, weil es für Gott keinen gibt. Aber damit dieses Wort nicht zu einem Slogan verkommt, der ohne Substanz bleibt, muss man ergänzen: es gibt keinen hoffnungslosen Fall, wenn der Betroffene die Therapieangebote nutzt. Wir wollen ihm schon – wir nennen das wohlwollende Konfrontation – sagen: du kriegst eine faire Chance, aber du musst die Spielregeln ernst nehmen.
Und das funktioniert?
Rottenschlager: Darum habe ich mir die Mühe gemacht dieses Buch zu schreiben. Es finden sich darin viele Mutmachergeschichten.
Glauben Sie an Wunder?
Rottenschlager: Im herkömmlichen Sinn nicht, etwa so, dass man hier aus Wasser Wein machen könnte. Aber dass Totgesagte, die sich selbst aufgegeben haben oder von der Gesellschaft aufgegeben wurden, wieder zu leben anfangen, einer Arbeit nachgehen und Familie gründen – solche Wunder gibt es schon. Ein Insider, der den Prozess der Wandlung aus der Nähe miterlebt und mitgestaltet, sieht das natürlich nüchterner. Aber schauen wir auf Manfred. Er lebt sechs Jahre auf der Straße, ist schwerer Alkoholiker und todkrank. Er kommt mit Erfrierungen 1989, registriert als Nummer 1, als erster Gast, in die Notschlafstelle Haus Kalvarienberg. Er entscheidet sich in Eggenburg eine Therapie zu machen und lebt seit 30 Jahren trocken. So gesehen gibt es Wunder. «
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