Wort zum Sonntag
Im Blick auf Corona ist die Rede von der gespaltenen Gesellschaft allgegenwärtig. Wie kam es so plötzlich zu einer Gesellschaft, in der sich ein großes Misstrauen zeigt, eine tiefe Kluft im Besonderen zwischen Geimpften und Nichtgeimpften?
Clara-Antonia Csiszar: Das Misstrauen ist nicht plötzlich gekommen. Man braucht nur an die Flüchtlingskrise 2015 zu denken. Da hat sich schon deutlich eine Kluft in der Gesellschaft gezeigt, ganz besonders zwischen Ost- und Westeuropa. Ein Stück weit muss man damit leben und umgehen lernen, denn nicht alle haben die gleiche Einstellung, wie man gesellschaftlich ein Thema bearbeiten soll. Es ist ein ständiges Ringen um das eigene Wohl und das des anderen, aber auch ein Umgang mit den eigenen Ängsten und mit den Ängsten in unseren Reihen. Man muss aber auch sehen, dass wir es hier mit Meinungsunterschieden zu tun haben. Ein Großteil der Bevölkerung ist geimpft. Ein anderer Teil wartet auf den Totimpfstoff: Sie sind eher skeptisch, was die neueren medizinischen Entwicklungen momentan uns anbieten können. Ich schätze, dass der Totimpfstoff auch bald da ist. Eine weitere, kleinere Gruppe bedient sich und bildet ihre Meinung nach leicht zugänglichen Verschwörungstheorien. Aber das war schon immer so. Was jetzt diese Meinungsunterschiede fatal macht, ist, dass sie eine unglaubliche und ganz konkrete Auswirkung auf unser Leben haben.
Warum ist das Vertrauen so schwierig geworden: in die Wissenschaft, in die Politik und auch in den gesunden Hausverstand?
Csiszar: Weil wir in einer Kultur der Angst leben. Das hat für mich viel mit der Leistungsgesellschaft zu tun. Wir haben Angst, zu kurz zu kommen, und Angst entsolidarisiert. Wenn immer nur Leistung verlangt wird, verliert man seine seelische Beheimatung, seine Mitte, wo Vertrauen genährt werden und wachsen kann. Vertrauen kann man nicht herstellen, es entwickelt sich oder baut sich eben durch die Jahre auf: die Erfahrung von Wertschätzung, Akzeptanz der Einmaligkeit und Einzigartigkeit jeder Person einfach so, ohne etwas geleistet zu haben. Diese Erfahrung braucht man, um vertrauen zu können.
Hat die Spaltung der Gesellschaft nicht auch mit Egoismus zu tun?
Csiszar: Ich denke ja. Dazu kommt noch das verbreitete Gefühl der Unzufriedenheit. Ich bin unzufrieden, und daran sind alle Schuld, nur ich nicht. Das andauernde Gefühl der Unzufriedenheit hat viel mit einem zweckorientierten Denken zu tun und Zweckorientierung bringt den Menschen in die Schräglage. Das Anpeilen von Lust, Erfolg, Glück deutet auf ein selbstzentriertes Denken hin und das hat fatale Folgen sowohl für die Person als auch für die Gesellschaft, in der man lebt. Sinnorientierung hingegen bedeutet, dass ich nicht um mich selbst kreise und mich nicht um mein Wohlbefinden kümmere, sondern über mich selbst hinausgehe und im Dienst an einer Sache, in der Liebe zu einer Person die Sinnhaftigkeit des Lebens erfahre. Glück, Erfolg, Lust, Freude können sich natürlich wie ein Ertrag einstellen. Liebe als Vorleistung ist hier gefragt und nicht als Erwartung. Wir können nicht von anderen erwarten, dass es uns gut geht. Wenn wir das tun, dann ist Frust vorprogrammiert. Erwarten kann ich nur von mir selbst irgendetwas. Ich kann aber alles tun, vor allem, indem ich Liebe als Vorleistung erbringe, dass das Vertrauen rund um mich wächst und sich nicht abbaut.
Was kann man tun, um die Kluft in der Gesellschaft zumindest wieder kleiner zu machen?
Csiszar: Es ist leichter zu sagen, was man nicht tun darf. Man darf nicht emotional auf die Ängste, die Aggression oder die Dummheit von anderen reagieren. Das spaltet nämlich weiter. Ich bekomme seit Tagen zum Beispiel Videos und Artikel von einem Impfgegner, warum man sich nicht impfen lassen darf. Ich bat ihn heute sehr höflich, mir keine weiteren Artikel und Videos mehr zuzuschicken, weil ich als Antwort auf jede Zusendung fünf andere schicken darüber könnte, was für die Impfung spricht. Ich habe auch gesagt, dass er mich nicht überzeugen wird und ich will ihn auch nicht überzeugen. Ich respektiere seine Meinung. Daraufhin hat er sich bei mir entschuldigt und bedankt. Das war ein kleines Beispiel, damit wollte ich nur kurz andeuten, dass in diesem Umgang nicht den Emotionen das Kommando gegeben worden ist, sondern das Geistige in uns war entscheidend. Solche kleinen Vertrauensräume können helfen. Ich denke, wir sollten versuchen, Vertrauensräume zu schaffen und statt emotional auf die Aggressivität von anderen zu reagieren. Es ist extrem schwierig, ich weiß, weil inzwischen Menschen sterben. Aber ich persönlich habe nichts anderes und nichts Besseres in der Hand. Vertrauensräume in meinem Leben und Zusammenleben mit anderen einzurichten, das ist in meiner Hand.
Warum gibt es in der Gesellschaft eine so große Wissenschaftsskepsis?Csiszar: Das ist schwer verständlich. Als Ungarin verfolge ich mit großem Interesse den Einsatz der ungarischen Biochemikerin Katalin Karikó, die ganz wesentlich an der Entwicklung des mRNA-basierten Impfstoffes beteiligt ist, wie er von BionTec Pfizer verwendet wird. Schon mehr als vierzig Jahre forscht sie im Bereich der mRNA. Wenn ich ihr zuhöre, merke ich, welch bescheidene Frau und fundierte Wissenschaftlerin sie ist. Ihr kann ich wirklich vertrauen. Ich kann nur raten, Wissenschaftlern zuzuhören, ohne mein Kopf-Kino mitlaufen zu lassen. Dazu sind wir doch alle fähig. Neue Informationen aufzunehmen, danach zu suchen, und uns auch von anderen Meinungen provozieren zu lassen, ohne sofort unser Kopf-Kino einzuschalten.
Wie soll man damit umgehen, dass Menschen einfach Fakten ignorieren, zum Beispiel, dass die Impfung der beste Schutz gegen das Virus ist?
Csiszar: Die Politik hat eine Lösung dafür gefunden: Es kommt die Impfpflicht. Das wird helfen. Die Frage ist, was wir daraus lernen und wie wir das Gelernte auf die Ebene der Bildung herunterbrechen werden.
Was sagen sie zum Verhalten der Kirchen in der Krise?
Csiszar: Wenn ich auf die Kirche im deutschen Sprachraum schaue, meine ich, dass sie die Menschen mit ihren Ängsten im Blick hat und gleichzeitig zum Impfen motiviert. Ich merke auch eine Sensibilität, was die Feier von Gottesdiensten betrifft. Die Vorschrift, ganz einfach und schlicht zu feiern, entspricht der Situation, wenn man auf die COVID-Stationen und Intensivstationen in den Spitälern schaut. Da würden keine pompösen Gottesdienste passen. Es läuft nie alles perfekt, aber ich merke in der Kirche Österreichs viel guten Willen, Sensibilität und einen achtungsvollen Umgang mit den Menschen.
Wenn Sie über den deutschen Sprachraum hinausschauen …
Csiszar: In meiner Heimat Rumänien beträgt die Impfquote (Tendenz steigend) 32 Prozent und es passiert nicht selten, dass man als Geimpfter beschimpft wird. Die orthodoxe Kirchen feiern Gottesdienste, als ob alles normal wäre, und gleichzeitig sterben in den Krankenhäusern 500 Menschen pro Tag. Das passt nicht zusammen. Der rumänische Patriarch hat sich erst jetzt impfen lassen. Es gibt aber auch ein beeindruckendes Beispiel, wo die Kirche vorangeht.
Wo ist das?
Csiszar: Bischof László Német leitet die Diözese Zrenjanin im Nordosten Serbiens. Dort beträgt die Impfquote in der Bevölkerung zwischen 25 und 30 Prozent. Der Bischof hat seine Priester zur Impfung verpflichtet – um ein Zeichen zu setzen und konkret auch Nächstenliebe zu zeigen. Es gibt Situationen, da muss man als Kirche vorangehen. Bis auf zwei Priester sind alle seiner Aufforderung nachgekommen. Die beiden Priester, die aber nicht in die Diözese inkardiniert waren, haben sie bereits verlassen.
Könnte die Diözese Zrenjanin auch für die Diözese Linz oder alle Seelsorgerinnen und Seelsorger in Österreich ein Vorbild sein?
Csiszar: Schwer zu sagen. In dem Kontext von Serbien war diese Entscheidung des Bischofs wichtig und richtig. Man muss auch sagen, dass in Serbien die Maßnahmen missachtet werden, die Vorschriften sind nicht so streng wie in Österreich und dementsprechend halten die Menschen sich auch nicht daran. Vom Gesundheitswesen und seinen Kapazitäten ja gar nicht zu sprechen. Hier entscheidet jede Impfung über Leben und Tod. Ich wäre ganz vorsichtig zu sagen, dass dies auch in der Diözese Linz der richtige Weg wäre. Solche Entscheidungen trifft man sicher nicht leicht, und viele Beratungen, Analysen und Überlegungen über den jeweiligen Kontext gehen voraus.
Denkt man an das Vorjahr, wurde man im Adventlockdown von Anregungen und Impulsen für religiöse Feiern beinahe überflutet. Jetzt ist es sehr still. Ist der Kirche die Kraft ausgegangen?
Csiszar: Heuer ist natürlich das Moment der Neuheit weg, aber ich sehe schon eine Reihe von Angeboten. Und wenn wir uns im Zustand der Unzufriedenheit ertappen: Ärgern wir uns nicht länger als eine halbe Stunde am Tag und nutzen wir die andere Zeit, um das zu tun, was wir können, wofür wir ganz persönlich verantwortlich sind.
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