Wort zum Sonntag
Es gibt diese Momente, die sich ohne Wenn und Aber gut und richtig anspüren. Das können ganz kleine Erfahrungen sein, wie ein Schluck Wasser. Oft sind es intensive Begegnungen, die die Gewissheit vermitteln, dass das Leben über den Tod hinaus Bedeutung und Bestand hat.
Der Dogmatikprofessor Willibald Sandler nennt sie Gnadenerfahrungen, oder er drückt es poetisch aus: Samenkörner der Vollendung.
Mit dem Tod eines geliebten Menschen machen viele die Erfahrung, dass das Leben nicht alles gewesen sein kann. Fragen kommen auf, was danach wartet. Auf diese Frage findet die Theologie heute ganz andere Antworten als vor hundert Jahren.
Die traditionelle Lehre, so erinnert Willibald Sandler, wusste genau, was nach dem Tod passiert. Es war ein individuelles Gericht mit Fegefeuer, Hölle und Himmel. „Das schien alles so einfach“, findet Sandler.
Einfach, aber nicht leicht, eher im Gegenteil: „Das Gericht flößte den Menschen Angst ein.“ Wenn jemand starb, war es höchste Zeit für die Angehörigen, eine Seelenmesse für die verstorbene Person lesen zu lassen, damit sie da gut durchkommt. Von „Gottesvergiftung“ sprach der Psychoanalytiker Tilman Moser.
Die größten Umwälzungen in der katholischen Lehre von den „Letzten Dingen“, auch als „Eschatologie“ bezeichnet, ereigneten sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Dogmatikprofessor Willibald Sandler bringt die Veränderungen mit dem Umbruch in den Naturwissenschaften in Verbindung – von der klassischen Physik zur Relativitätstheorie Albert Einsteins.
„Alles gerät in Bewegung, wenn man die Vorstellung von Raum und Zeit nicht über den Tod hinaus denken kann.“ Es sei naiv, sich die Zeit im Jenseits genauso vorzustellen wie im Diesseits, sich gar durch Ablass Jahre, Monate, Tage oder Stunden im Fegefeuer ersparen zu wollen.
Und dennoch: Davon auszugehen, dass es nach dem Sterben keine Zeit mehr gebe, sei auch naiv, erklärt Willibald Sandler. „Wir müssen eine Art von Zeitlichkeit annehmen, wenn wir davon ausgehen, dass Menschen, wenn sie sterben, nicht ganz fertig sind.“
Denn wer sterbe denn schon wirklich umfassend versöhnt? Es müsse also etwas ausreifen. „Für das Reifen braucht es einen Prozess, also irgendeine Form von Zeit.“
Wenn sich heute Menschen vor dem Tod fürchten, dann sei das eine ganz andere Angst als früher vor dem Gottesgericht.
„Wir leben großteils so, als würden wir immer so dahinleben. Der Tod konfrontiert uns damit, dass es nicht so weitergeht. Das kann Angst machen.“
Umgekehrt gibt es die bereits erwähnten Ewigkeitsmomente, Erfahrungen der Fülle, die die Zuversicht nähren, dass der Tod am Weg zur Vollendung liegt. Christinnen und Christen finden Zuversicht, wenn sie die Evangelien lesen. Zum Beispiel über Jesu Wunderheilungen, deren Botschaft sei, dass da noch etwas ausständig ist, wie Sandler schildert.
„Die Erzählungen greifen auf eine Vollendung voraus, die noch nicht ist.“ Denn jeder Moment der Fülle, jedes Samenkorn der Vollendung, habe ein Ablaufdatum. Man dürfe nicht der Versuchung unterliegen, es festhalten zu wollen. Biblisch gesprochen: „Es gibt den Berg der Verklärung. Aber man kann darauf keine
Hütten bauen.“
Neben den Ewigkeitsmomenten brauche es auch die Nüchternheit, die Trostlosigkeit, die dunkle Nacht. „Sonst wartet man auf nichts mehr“, gibt Willibald Sandler zu bedenken. „Das war noch nicht alles“, sei die Haltung, in der er lebe. Es gebe ein „Jetzt schon“ gleichzeitig mit einem „Noch nicht“. Wie die Realität nach dem Tod aussieht, könne man allerdings nicht genau wissen, schränkt der Dogmatikprofessor ein. „Es wird ganz anders sein.“
Gleichzeitig warnt der Theologe davor, nur in der Hoffnung auf das Ausständige, auf die Vollendung im Jenseits zu leben. „Wenn der Grund der Hoffnung nur im Ausständigen liegt, baut man auf Wolken. Das Ausständige ist Utopie. Es braucht die Erfahrungen der Ewigkeit im Hier und Jetzt.“
Woher aber könne man überhaupt wissen, dass sich mit dem Tod nicht alles auflöst? Willibald Sandler meint: „Sowohl der Anspruch zu wissen, wie es nach dem Tod weitergeht, als auch der Anspruch zu wissen, dass nach dem Tod nichts weitergeht, sind Extreme.“ Beide Extreme seien nicht belastbar.
Die Hoffnung habe nicht den Anspruch zu wissen, fasst Sandler zusammen. „Die Gewissheit ist ein Ausdruck von Hoffnung, und sie hat mehr Gewicht als bloßes Wissen.“
„Mit dem Tod eines geliebten Menschen machen viele die Erfahrung, dass das Leben nicht alles gewesen sein kann.“
Am Institut für Systematische Theologie in Innsbruck ist Willibald Sandler Professor für Dogmatik. Außerdem leitet er das Gebetshaus „Die Weide“ und lehrt bei den Theologischen Kursen der Erzdiözese Wien, unter anderem über die „Letzten Dinge“.
Sein nächster Kurs: „Allmächtig. Was können wir Gott noch zutrauen?“, 26.–28. April im Bildungshaus St. Virgil/Salzburg.
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Birgit Kubik, 268. Turmeremitin, berichtet von ihren Erfahrungen in der Türmerstube im Mariendom Linz. >>
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