Dr. Mira Stare ist Bibelwissenschaftlerin an der Kath.-Theol. Fakultät Innsbruck und Pfarrkuratorin in der Diözese Innsbruck.
Quer durch die Geschichte nutzten Christinnen und Christen, oder Menschen, die sich so nennen, die Figur des „Antichristen“, um Stimmung zu machen. Der US-amerikanische Großinvestor Peter Thiel erklärt Greta Thunberg und Mutter Teresa zum Antichristen, Patriarch Kyrill den „Westen“.
In den Konfessionskriegen verurteilten sich Katholiken und Protestanten wechselseitig als „Antichrist“. Einmal Luther, dann der Papst – der Antichrist wechselte fleißig die Gesichter.
Der Begriff selbst kommt im Neuen Testament nur in den Johannesbriefen vor. Christen waren damals eine kleine, verfolgte Minderheit. Die Rede vom „Antichrist“ war ihnen eine Hilfe, die Zeit der Unterdrückung zu deuten und Hoffnung zu schöpfen – nicht mehr lange, und Christus wird kommen.
Ab dem Mittelalter hingegen wurde der „Antichrist“ zum Kampfbegriff der Mächtigen. Wer nutzt heute den Begriff „Antichrist“? Religiöse Fundamentalisten, Kriegstreiber. In den Kulturkriegen der Gegenwart wird der „Antichrist“ eingesetzt, um das Streben nach Macht voranzutreiben. Der „Kampf gegen den Antichristen“ legitimiert Gewalt. Der Antichrist muss angeblich vernichtet werden. Wo bleibt Christus?
Schon im 12. Jahrhundert hat der große Theologe Otto von Freising davor gewarnt, konkrete Personen in der Geschichte mit dem Antichristen zu identifizieren. Der neuernannte Kirchenlehrer Kardinal John Henry Newman (1801–1890) sah in der biblischen Rede vom Antichristen eine Warnung an jede Generation vor Mächten und Strukturen, die uns in den Bann der Vernichtung ziehen. Perfide Lügensysteme, die vorgeben, absolut christlich zu sein.
Niemand von uns kennt die Stunde, wann Christus wiederkehren wird. Aber eines erfahren wir seit Jahrhunderten und heute aufs Neue: Der Kampf gegen den „Antichristen“ hat noch nie gut geendet, sondern stets in grausamer Gewalt gemündet.
Niemand ist der personifizierte Antichrist, aber wir alle sind anfällig für die Versuchung des Bösen. Und die grausigste Versuchung des Bösen ist es, „im Namen Gottes“ wider den Antichristen zu kämpfen. Christen leben für Christus, nicht gegen den Antichristen.
Dr. Mira Stare ist Bibelwissenschaftlerin an der Kath.-Theol. Fakultät Innsbruck und Pfarrkuratorin in der Diözese Innsbruck.
Birgit Kubik, 268. Turmeremitin, berichtet von ihren Erfahrungen in der Türmerstube im Mariendom Linz. >>
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