Wort zum Sonntag
Immer mehr Menschen ohne Heilungsaussicht ziehen daher zumindest in Erwägung, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Der „Tag des Lebens“ am 1. Juni ruft das Problematische dieser Entwicklung in Erinnerung: Wir sollten Leben, gerade aus christlicher Sicht, unter allen, auch schwierigen Umständen bejahen. Aber wie lässt sich dieses bedingungslose Ja begründen? Wie lässt es sich auch anderen verständlich machen?
Wie der Verfassungsgerichtshof in einem Urteil vom Dezember 2020 formuliert, haben wir als Erwachsene das Recht, Art und Zeitpunkt des Todes zu bestimmen – Selbstbestimmung sei hier wichtiger als Leben. Aber ist die Sache tatsächlich so einfach? Natürlich haben Freiheit und Selbstbestimmung unmittelbar mit unserer Würde zu tun. Aber das Ursprünglichere ist das Leben: Es trägt uns lange, bevor wir uns dessen überhaupt bewusst werden. Es entfaltet sich, bringt uns voran, lässt Bewusstsein und lässt die Neugier auf ein Mehr an Leben entstehen; lässt uns dabei auch Widerstände und Hemmnisse überwinden, ohne dass wir dies immer bewusst bejahen oder entscheiden.
Was uns an Suiziden, vor allem in der Jugend und in der Mitte des Lebens, so irritiert, ist wohl, dass diese selbstverständliche Dynamik, aus der heraus selbst die größten Schwierigkeiten des Lebens überwunden werden, plötzlich abbricht. Sehnsucht und Hoffnung nach einem Leben „trotz allem“ brechen weg. Schwere Krankheiten mit Einschränkungen und Abhängigkeit, wie sie aktuell Anlass für assistierten Suizid sein können, stellen ohne Zweifel Krisen dar. Gewohntes Leben ist nicht oder nie mehr möglich, das eigene Aussehen mag sich verändern und den Selbstwert in Frage stellen. Aber Krisen gehören immer zum Leben. Gewöhnlich bewirken sie Wachstumsschritte und eröffnen neue Perspektiven. Sollte das für Krankheiten und für das Ende des Lebens nicht mehr gelten?
Die moderne Glücksforschung hat gezeigt, dass Menschen, zum Beispiel nach einer Querschnittslähmung, rasch zu einem glücklichen Leben zurückfinden können, wenn sie eine sinnvolle Aufgabe finden und wenn es gute Beziehungen gibt. Leben unter Einschränkungen, körperlichen Grenzen und in Abhängigkeit kann auch bewusstmachen, wie stark unser Leben gewöhnlich durch Erfolgserwartung, Leistungszwang und Hyperaktivismus dominiert ist. Leben ist nicht die ständige Steigerung von „performance“, von Leistung, sondern auch Auseinandersetzung mit und Integration von Grenzen.
Der schon verstorbene, deutsche Moraltheologe Klaus Demmer hat betont, Sinn im Leben müsse aktiv „ergriffen“, beziehungsweise „durchgesetzt“ werden. Je älter wir werden, desto bewusster muss man sich für die Möglichkeiten entscheiden, die das Leben, auch in schwierigen Situationen, bereithält. Die Freigabe des assistierten Suizids fordert uns dazu immer mehr heraus.
Der Überlebenswille ist eine enorme Kraft. Manchmal geht er dennoch verloren. Wie geht man damit um? Über diese Frage macht sich Walter Schaupp zum „Tag des Lebens“ am 1. Juni Gedanken. Er ist Mediziner, Priester, Universitätsprofessor i. R. des Instituts für Moraltheologie in Graz und Mitglied der Bioethikkommission.
Wort zum Sonntag
Birgit Kubik, 268. Turmeremitin, berichtet von ihren Erfahrungen in der Türmerstube im Mariendom Linz. >>
Jetzt die KIRCHENZEITUNG 4 Wochen lang kostenlos kennen lernen. Abo endet automatisch. >>