Der Schriftsteller Erich Hackl holt in seinen Büchern Geschichten in die Gegenwart, die schmerzen. Abseits der Verleihung des Adalbert-Stifter-Preises sprach er über sein neues Buch, über Erinnerung und das, was ihm an Oberösterreich auffällt.
Ausgabe: 2013/49, Hackl, Dieses Buch gehört meiner Mutter
04.12.2013
Was bedeutet Ihnen Erinnerung? Erich Hackl: Sich-Erinnern ist ein Vergegenwärtigen. Wir dürfen Erinnern nicht in die Vergangenheit abschieben, sondern müssen es in der Gegenwart belassen, wo es hingehört.
Ihre Mutter macht sich in Ihrem neuen Buch Gedanken über das Verschwinden der Roma und Sinti während des Nationalsozialismus: „Unsere Schuld war, dass wir nicht fragten, wo sie geblieben waren.“ Wie kann man Menschen dazu bringen, nachzufragen? Als Schriftsteller bin ich nicht mehr befähigt als andere Leute, das zu beantworten. Es gibt scheinbar konventionelle Menschen, die auf einmal mit Barmherzigkeit reagieren und Missstände bekämpfen. Und es gibt andere, die alle geistigen Voraussetzungen hätten, um helfen zu können, und es nicht tun. Deshalb schreibe ich über Menschen, die verfolgt werden – um erst gar nicht in die Lage zu kommen, mich entscheiden zu müssen, ob ich wegschauen oder mich engagieren soll.
Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, stirbt. Kann Literatur die Geschichte anders als in Fotografien und Filmen lebendig halten? Ich bin nicht sicher, ob eine historiografische Literatur genug ist. Es genügt nicht darzustellen, was passiert ist. Es muss etwas dazukommen. Der Tod des Roma-Mädchens Sidonie Adlersburg im Konzentrationslager (siehe Kasten) geht über den Schmerz des Mädchens und den Schmerz ihrer Familie hinaus. Es wäre möglich gewesen, die Deportation zu verhindern. Die handelnden Amtspersonen haben aber befunden, dass es besser wäre, wenn das Mädchen wegkommt. Dieses Verhalten übersteigt die Zeit des Geschehens. Es reicht in die Gegenwart, wenn wir an das Verhalten von mit der Abschiebung von Asylanten befassten Personen heute denken.
Sie leben in Wien und Madrid. Was fällt Ihnen an Oberösterreich auf? Die Oberösterreicher erscheinen mir als eher zurückhaltend. Der Überlebende Joschi Adlersburg, Sidonies Bruder, hat gesagt, dass die Oberösterreicher verschreckt sind. Ein Mädchen in der Steiermark hatte das gleiche Schicksal wie Sidonie, doch sie hat den Holocaust überlebt. Dagegen ist Sidonie umgekommen, weil die über ihr Schicksal entscheidenden Menschen es für angemessen hielten, das Mädchen seiner leiblichen Mutter zuzuführen. Das bedeutete damals ihren Tod und ist Verdrängung aus scheinbarer Humanität. Es kann ein Zufall sein, aber es kann auch typisch oberösterreichisch sein. Positiv ist, dass die Oberösterreicher kein Problem mit ihrer eigenen Identität haben. Sie müssen sich nicht gegenüber ihren Nachbarn abgrenzen. Sie suchen den Dialog. Oberösterreich ist ein Industrieland, aber in der Mentalität herrscht immer noch das Bäuerliche vor.
Wäre Ihre Mutter mit dem Buch zufrieden? Ich habe vor 30 Jahren begonnen, mit ihr und meinem Vater Gespräche zu führen, schon mit der Absicht, irgendwann über ihre Kindheitswelt zu schreiben. Im Laufe der Jahrzehnte habe ich den Wandel ihrer Einstellung mitbekommen, die Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Verhalten und dem des Vaters. Sie ist in den Fragen, die aktuelle sind, immer radikaler geworden: in Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Militarisierung, des Rassismus. Ich habe große Freude mit dem Buch, weil ich sicher bin, dass sie sich auch freuen würde.
Der Autor als Chronist
Erich Hackls Erzählungen handeln von realen Schicksalen und wurden in 25 Sprachen übersetzt. Zwei Bücher sind Schullektüre: „Auroras Anlass“ und „Abschied von Sidonie“. Das Roma-Mädchen Sidonie Adlersburg lebte bei Pflegeeltern in Steyr, wurde deportiert und starb 1943 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Zum soeben erschienenen Werk „Dieses Buch gehört meiner Mutter“ siehe die Buchbesprechung von Maria Fellinger-Hauer.
Zur Person
Dr. Erich Hackl ist Schriftsteller, Publizist und Übersetzer. Er lebt in Madrid und Wien. Der gebürtige Steyrer, geboren 1954, studierte Hispanistik und Germanistik. Im November 2013 erhielt er den Adalbert Stifter-Preis des Landes Oberösterreich.