09.09.1998 - Kirchenzeitung der Diözese Linz, Tommy Scholtes SJ, Wavre
Der Fall Marc Dutroux hat Flamen und Wallonen im Leid über verschwundene und ermordete Kinder vereint. Im Klima von Zorn und Verzweiflung über die Institutionen kann die Kirche zwar mitreden, doch sie wird beispielhaft mit dem Problem des Mißbrauches von Kindern in ihren eigenen Reihen umgehen müssen.Julie Lejeune und Mélissa Russo wurden 1995 entführt. An Marchal und Eefje Lambrechts wurden an der belgischen Küste entführt; für die Polizei waren die beiden Ausreißerinnen, aber keine Entführungsopfer. Und Sabine Dardenne und Laetitia Delhez wurden 1996 zu Beginn der Ferien entführt. Von der Polizei befragt, antwortete Marc Dutroux: „Ich werde euch zwei Mädchen liefern.“ Die Öffentlichkeit entdeckt den grauenhaften Kerker von Sabine und Laetitia. Als sie zu ihren Familien zurückkehren, weint eine ganze Nation Freudentränen. Doch eine Nachricht bricht über die Nation herein: Die Jugendlichen waren in den Todeskellern mißhandelt worden. Und Julie und Mélissa hatten sich in denselben Kellern über Monate hinweg aufgehalten – sie sind dort verhungert, nachdem sie miß-handelt worden waren. Belgien war entsetzt angesichts derartiger Schandtaten. Die Wohnungen der Eltern werden ebenso zu Pilgerstätten wie die Orte, an denen die Leichen entdeckt wurden. Alle belgischen Fernsehsender übertragen das „Staatsbegräbnis“ für Julie und Mélissa: eine Feier, die keine Eucharistie ist – Kinderlieder, Texte und Bibelauslegungen. Die Menschen fühlen sich wohl; offizielle Repräsentanten des Staates sind toleriert, aber nicht willkommen. Der Bischof ist gerade in Lourdes. Die Würde der Eltern beeindruckt das Land. Die Emotionen steigern sich, als kurze Zeit später die Leichen von An und Eefje entdeckt werden. Am 7. September 1996 erneut ein „Staatsbegräbnis“ am 7. September 1996. Der Bischof feiert die Eucharistie. Verzweiflung und ZornEine Frage erschüttert das Land: Haben die Kinderschänder einen Schutz genossen, der es ihnen erlaubte, ungestraft zu handeln? Ohne Zurückhaltung werden Beschuldigungen und Enthüllungen ausgesprochen. Eine erste Großdemonstration findet vor dem Brüsseler Justizpalast statt, als ein Untersuchungsrichter „suspendiert“ wird – soll er gehindert werden, zu einem schlüssigen Ergebnis zu kommen? Da hätte man die Klugheit von Nabela Ben Aïssa benötigt, der großen Schwester von Loubna, die im Keller von Patrick Derochette tot aufgefunden wurde. Das seit Monaten abgängige Mädchen befand sich einige hundert Meter von zu Hause entfernt. Warum hatte man sie nicht früher gefunden? Warum wurde kein Untersuchungsrichter ernannt? Auch hier gab es ein „Staatsbegräbnis“ in der Moschee von Brüssel. Auch hier Einstimmigkeit im Mitfühlen für eine Immigrantenfamilie. Dieses Ereignis hat es ermöglicht, mit anderen Augen auf die Immigration zu schauen. Aber die Christen waren nicht anwesend – außer in der Anonymität der Menge. Die Eltern der ermordeten oder verschwundenen Kinder werden zu Sinnbildern. Die Emotionen ebben nicht ab. Am 20. Oktober 1996 veranstalten 350.000 Menschen den „weißen Marsch“, einen Schweigemarsch durch belgische Hauptstadt. Das Fernsehen nimmt im Herzen des Zuges gleichsam daran teil. Es war eine unerwartete Menge, in völliger Würde, zum Schutz der Kinder und für eine effizientere Justiz. Es hätte jede Familie treffen können; alle in Belgien fühlten sich betroffen. Flamen und Wallonen vereint im gleichen Leid, in derselben Verzweiflung. Wenn Verzweiflung und Zorn die Institutionen bewegen, wird der Staat in seinen Grundfesten erschüttert. Die Pfeiler der Demokratie schwanken.Menschen gehen mitIn seiner Weihnachtsbotschaft 1996 sprach Kardinal Godfried Danneels von den „weißgekleideten Männern“ aus der Apokalypse. Der Erzbischof von Brüssel spielte damit auf die Würde des „weißen Marsches“ und seine moralische Kraft an. Aber wegen Kindesmißbrauches wurden in den vergangenen Jahren mehrere Priester und Mesner inhaftiert. Anfang Februar 1998 mußte der Kardinal vor Gericht aussagen. Und am Gründonnerstag verurteilte der Gerichtshof Danneels und seinen Weihbischof Lanneau als die „zivilrechtlich Verantwortlichen“. Zuvor hatte der Kardinal mehrmals versichert, er wäre über die von dem Priester verübten Untaten nicht am laufenden gewesen, obwohl er mehrere Schreiben des Generalbevollmächtigten für die Rechte der Kinder erhalten hatte. In Anbetracht der Konsequenzen dieser Verurteilung für alle Institutionen und Organisationen, hat der Kardinal Berufung eingelegt. Doch die öffentliche Meinung mißbilligt sein Vorgehen. Kardinal Godfried Danneels: „Wenn die Justiz Dokumente von einer Diözese fordert, wird das eine Durchsuchung. Wenn jemand verhaftet wird, ist er bereits schuldig.“ Die Psychose ist allgegenwärtig. Als die Untersuchungskommission vor kurzem ihren Bericht vorlegen sollte, versammelten sich erneut 30.000 Menschen vor dem Justizpalast von Brüssel: „Wir wollen für die Wahrheit und gegen das Schweigen demonstrieren“, sagte Gino Russo, der Vater der kleinen Mélissa. Er sei das Risiko eingegangen, erneut die Menge einzuladen. „Sie war bisher da. Sie wird da sein.“ Die Kirche kann in der belgischen Gesellschaft mitreden, aber sie wird beispielhaft sein müssen.