Die Schlange derer, die in der sibirischen stadt Omsk um Brot und Tee anstehen, wird täglich länger
Ausgabe: 1998/38, Omsk
15.09.1998 - Walter Achleitner
Für Sr. Juliane ist es nur eine Station auf ihrer Tour durch die Millionenstadt Omsk: der Hauptbahnhof des westsibirischen Industrie- und Handelszentrums. Gegen halb drei Uhr am Nachmittag kommen die Ordensfrau aus St. Georgen an der Gusen und ihre HelferInnen täglich auf den großen Platz, um dort an Obdachlose und Hilfesuchende Brot und Tee zu verteilen und einfache medizinische Hilfe zu leisten. „Zum Gespräch bleibt da kaum Zeit. Es ist ein Gedränge, wenn so wie in den letzten Tagen über 200 Menschen anstehen. Für Erwachsene gibt es Butterbrote oder Schmalzbrote, für Kinder süße Semmeln. Sie haben Angst, wir hätten nicht genug für alle – und seit einigen Tagen passiert es wirklich: wir haben zuwenig mit. Denn es werden täglich mehr“, klagt Sr. Juliane. „Es sind nicht mehr nur Obdachlose. Jetzt kommen immer mehr Frauen, die uns erzählen, daß ihre Kinder hungern!“Seit Sr. Juliane in der Gemeinschaft der Missionarinnen Christi lebt, hat sie ein Bild vor Augen: den gekreuzigten Jesus – ohne Arme. Ihm zu helfen, ist ihr Lebensziel. Da schmerzt es, wenn das Brot vor dem Bahnhof einfach nicht reicht. Auch wenn sie morgen wieder mehr einpacken wird, weiß sie nicht, ob der Hunger aller gestillt wird. Denn momentan weiß niemand, wie es weitergehen wird.