50 Jahre Menschenrechte - Jugendliteraturwettbewerb
Ausgabe: 1998/49, Literatur
02.12.1998 - Kirchenzeitung der Diözese Linz
Das Rattern des Wagens riß ihn aus seinen Gedanken. Wo waren sie? Wie lange waren sie schon unterwegs? Er wußte es nicht. Sein Zeitgefühl war ihm hier im stockfinsteren Kastenwagen völlig abhanden gekommen. Zusammengepfercht wie in einer Sardinendose fühlten sie sich. Die meisten der über zwanzig Menschen schliefen, nur ab und zu begann eines der Kleinkinder zu schreien. Der Gestank, den die Flüchtlinge, die tage- oder wochenlang kein Wasser gesehen hatten, verströmten, war beinahe unerträglich. Adem konnte nicht einschlafen. Immer wieder tauchten vor seinem inneren Auge die Bilder des verwüsteten Dorfes auf, das er Hals über Kopf verlassen hatte müssen, mit nichts außer dem, was er am Leib hatte. Er versuchte krampfhaft, diese Bilder zu verdrängen, aber sie ließen ihn nicht los. Wie konnte er auch die kugeldurchsiebten Leichname der wenigen im Dorf verbliebenen Männer und die ausdruckslosen Kinderaugen vergessen, die sich in seinem Gehirn festgekrallt hatten. Er drückte sich etwas fester an den neben ihm sitzenden Onkel und versuchte erneut, ein paar Minuten Schlaf zu finden. Kaum war er eingenickt, schreckte er wieder hoch, geweckt vom Greinen eines Babies, dessen Mutter mit verweintem Gesicht ihm gegenüber kauerte. Er konnte sich nicht erinnern, wo sie zugestiegen waren, er wußte nur noch, daß sie auf der ihm endlos erscheinenden Fahrt unzählige Male haltgemacht hatten, um noch ein paar arme Teufel aufzunehmen. Onkel Haris neben ihm stöhnte im Schlaf. Ob ihm die Erinnerung an die grausamen Folterungen Alpträume bereitete? Adem konnte es nur erahnen. Beim Gedanken daran schossen ihm die Tränen in die Augen, denn plötzlich sah er wieder seinen Vater vor sich, wie er von zwei serbischen Soldaten mehr tot als lebendig aus ihrem Versteck gezerrt wurde. Haris hatte ihm kurz darauf erzählt, daß sein Vater in ein Konzentrationslager verschleppt worden war, wo er unter schrecklichsten Bedingungen dahinvegetierte. Daß seine Mutter und Fatmira, Adems Schwester, tot waren, konnte er noch gar nicht so richtig begreifen, zu vertraut waren ihm noch die schützenden Hände und die liebevollen Gesten. Ruhe!“, zischte es aus der Fahrerkabine. Angsterfüllt fuhr Adem zusammen. War ihre Flucht nun zu Ende? Würde man sie wie Vieh aus dem Wagen treiben und dann das Unvorstellbare mit ihnen machen, vor dem man sie immer gewarnt hatte? Sogar sein serbischer Freund Josip hatte Andeutungen darüber gemacht, bevor ihn die Militärs zur Ausbildung befohlen hatten. Josips letzter Blick zurück saß noch immer wie ein Stachel in seinem Fleisch. Adem hielt den Atem an, als das Fahrzeug stoppte. Schreie und unverständliche Wortfetzen begleiteten die Schläge auf die Wagentür. Plötzlich wurde sie aufgerissen und der Strahl einer Taschenlampe blendete ihn so stark, daß er die Augen schließen mußte. Erst als er hart an der Schulter angefaßt und von seinem Sitz gerissen wurde, öffnete er sie wieder und starrte, gelähmt vor Angst, auf die Tschetniks, die den Wagen umstellt hatten. Die furchterregenden Gestalten deuteten den Frauen, sich links vom Wagen aufzustellen, während Adem und die anderen Männer sich mit dem Gesicht nach unten auf den kalten Erdboden legen mußten. Das Geräusch, das beim Entsichern der Waffen entstand, brachte Adem beinahe um den Verstand. Sein letzter Gedanke galt seinem Vater, als plötzlich ein Schuß ertönte, eine Kugel seinen rechten Oberarm durchschlug und eine flüsternde Stimme neben ihm sagte:„Beweg dich nicht, du bist tot!“ Adem erkannte Josips Stimme und wußte, daß ihm eine kleine Chance geblieben war.Am 28. 11. war die Preisverleihung des Jugend-Literaturwettbewerbs (veranstaltet von Kirchenzeitung, Bildungshaus Puchberg, Arbeiterkammer und Initiative „Welser gegen Faschismus“). Der 1. Preis (Wochenende in London) ging an Sarah Retzl aus Wels für den hier abgedruckten Text „Adem fährt“. (2. Preis an Barbara Oswald, 3. Preis an Bernhard Baumgartner)