Im Gespräch zwischen Lesern und Autoren taucht immer wieder die Frage auf: Was kann Literatur bewirken, welchen Einfluß kann der Schreibende auf den Lesenden nehmen oder anders und ein wenig pathetischer gefragt: Gibt es ein Buch, das mein Denken und Fühlen, meine Fantasien und Bilder von der Welt gelenkt oder gar verändert hat?Müßte ich auf diese Frage spontan antworten, würde mir ziemlich rasch die Erzählung „Kassandra“ von Chr.Wolf einfallen, jene Geschichte von der griechischen Sagenfigur, die in unserem Sprachgebrauch bis heute als Symbol für düstere Zukunftsaussichten gilt. Christa Wolf läßt Kassandra ihr Leben wenige Stunden vor dem Tod noch einmal überdenken. Es war ein Leben unter Männerherrschaft und in Kriegsgreueln. ln Wahrheit meint die Autorin natürlich nicht die Prahlereien und Gewaltverbrechen der griechischen und trojanischen Männer, sondern sie zielt mitten in unsere politische und technokratische Welt. Sie bringt mit der uralten Geschichte und dem ganz zeitgenössischen Blick eingefrorene, erstarrte Muster ins Wanken und bleibt dem Grundsatz ihres Schreibens treu, „daß die Literatur die Bedingungen untersucht, in denen sich der Mensch als moralisches Wesen selbst verwirklichen kann.... Was der Autor sieht oder findet, müßte er ohne Scheu sagen, aufschreiben und nicht fürchten müssen, daß das der Gesellschaft, in der er lebt, schadet, sondern davon ausgehen, daß alles, was wahrheitsgemäß gesagt ist, ihr nutzt....“ Christa Wolf ist am 18. März 1929 in Landsberg an der Warthe im heutigen Polen geboren. Ihre Kindheit in der Nazizeit hat sie 1979, kunstvoll verwoben mit der Gegenwart in dem großen Roman „Kindheitsmuster“ erzählt. Die Familie floh nach 1945 nach Mecklenburg in die junge DDR. Schon seit ihrem Studium der Germanistik in Jena - und das gilt bis 1989 versuchte sie die schwierige Balance zu halten zwischen Loyalität zum „anderen Deutschland“ und der „Farbe der Aufrichtigkeit“. ln der Erzählung „Was bleibt“ hat sie 1989 von dieser Gratwanderung und ihren Konsequenzen wie Bespitzelung und Postzensur berichtet. Dieses Buch löste vor allem in Westdeutschland heftige Kontroversen aus. Manche Kritiker warfen der Autorin Heuchelei und zu große Nähe zum zusammengebrochenen Regime vor. Ein Vorwurf, der sie fast zum Verstummen gebracht hatte. Für mich bleibt Christa Wolf eine meiner „lebensbestimmenden“ Autorinnen. Einige ihrer Bücher gehören zu denen, die ich immer wieder in die Hand nehme ... Neben „Kassandra"“ sind dies vor allem „Störfall“ von 1987, eine literarische Reaktion auf Tschernobyl und „Sommerstück“.