Wie der Mensch immer wieder seine eigenen Grenzen erlebt
Im Streit um das „Seelenheil“ ist die Kircheneinheit zerbrochen
Ausgabe: 1999/44, Seelenheil
03.11.1999 - Kirchenzeitung der Diözese Linz, Johann W. Mödlhammer
Hinter dem „Gelehrtenstreit“, der zwischen katholischer und evangelischer Kirche nun beigelegt wird, steckt eine zentrale Frage des Menschen.
„Wenn wir das erlangen, dass anerkannt wird, Gott allein aus lauter Gnade rechtfertigt durch Christus, dann wollen wir den Papst nicht nur auf Händen tragen, sondern ihm auch die Füße küssen“, schreibt Martin Luther 1531. Wie konnte es zu solchem Missverständnis des katholischen Glaubens kommen, dass in der Frage der Rechtfertigung die Kircheneinheit zerbrach? Mehrere Ursachen führten zur Kirchenspaltung: einseitig überzogene Frömmigkeitsformen im Messwesen, bei Ablässen, Wallfahrten und anderen frommen „Werken“; das Verständnis von Christus als zürnenden Richter; das Erbarmen und die Hilfe wurde fast exklusiv auf Maria und andere Heilige verlagert. Aber auch menschliches Nicht-verstehen-Können und Nicht-verstehen-Wollen und Schuld auf beiden Seiten.
Bei all dem war an der Auseinandersetzung über die Rechtfertigung eines wesentlich: Martin Luther erlebte, wie er als Mensch zwar Gottes Gebote halten will, musste jedoch feststellen, wie er in der Tiefe seines Herzens daran scheitert und an sich und vor dem strafenden Gott verzweifelt. Was Theologen „Rechtfertigung“ nennen, war für unsere Vorfahren im Glauben eine Frage der „Seligkeit“ – des Gerettetwerdens durch Gott für Zeit und Ewigkeit – oder eben des Verlorengehens; also alles andere als bloßer Theologenstreit. Es war eine Frage auf Leben und Tod.
Fromme Werke
Aus evangelischer Sicht bestand die Gefahr des Verlorengehens des Menschen durch das falsche Vertrauen auf Rettung durch seine eigenen guten und auch „frommen“ Werke. Aus katholischer Sicht hingegen konnte die Gefahr des Verlorengehens durch ein vermessenes Vertrauen gesehen werden. Dann nämlich, wenn die Verantwortung des Menschen, mit dem rettenden Gott „mitwirken“ zu müssen, nicht ernst genommen würde. Dies trifft allerdings nicht die Situation des Angefochtenen und an seiner eigenen Gerechtigkeit Verzweifelnden. Dieser erlebt ja, dass er sich nicht selbst rechtfertigen kann und Gerechtigkeit nur als Geschenk empfangen kann.
In der Reformationszeit sind freilich überspitzte Formulierungen vorgekommen, die vor allem als abstrakte Aussagen missverständlich waren. Wenn es in der Konkordienformel, einer evangelischen Bekenntnisschrift, heißt: Der Mensch kann „zu seiner Bekehrung ganz und gar nichts tun und ist in solchem Fall viel ärger als ein Stein, denn er widerstrebt dem Wort und Willen Gottes, bis Gott ihn vom Tode der Sünde erweckt, erleuchtet und erneuert.“ Das Konzil von Trient (1547) erklärt demgegenüber: „Wer sagt, der Gottlose werde allein durch den Glauben gerechtfertigt, so dass er (darunter) versteht, es werde nichts anderes erfordert, wodurch er zur Erlangung der Rechtfertigung mitwirke, und es sei keineswegs notwendig, dass er sich durch seine eigene Willensregung vorbereite und zurüste: der sei ausgeschlossen.“
Allein der Glaube
Die reformatorische Betonung des „Christus allein“, „die Gnade allein“, „der Glaube allein“ brachte dem angefochtenen Gewissen die befreiende Seligkeit bedingungslosen Angenommenseins durch Gott. Die Stimme des Konzils rief in der Befürchtung eines laxen oder vermessenen Gewissens auf, die von der Gnade Christi getragene Verantwortlichkeit des Menschen nicht zu übersehen. Dies ist freilich nur ein Aspekt der konfessionellen Kontroverse, der sich aber auf das religiöse Leben unmittelbar auswirkt.
Wie werde ich gerecht?
Wie werde ich gerecht? Wie werde ich dem Anspruch gerecht, der an mich gestellt wird? Kein verantwortungsbewusster Mensch kommt an diesen Fragen vorbei. Früheren Generationen war klar, dass diese Fragen vor Gott zu stellen sind: Wie werde ich vor Gott gerecht? Darum geht es auch heute in der sogenannten „Rechtfertigungslehre“, über die am 31. Oktober in Augsburg eine offizielle Gemeinsame Erklärung der römisch-katholischen Kirche und des Lutherischen Weltbundes unterzeichnet wurde.Der heutige Mensch hat Gott weithin aus dem Bewusstsein verloren. Ihn plagt nicht – wie noch Martin Luther –, ob er vor Gott gerecht ist. Dennoch, der Frage entkommt er nicht. Denn bei aller hektischen Jagd nach dem Leben erfahren sehr viele die Gebrochenheit ihres Lebens in Sinnverlust und Verlust eines tragenden Bodens, auf dem man getrost leben und sterben kann. Diesen Verlust kann der Mensch nicht durch eigene Leistung heilen, jedenfalls nicht an der Wurzel. Soll er geheilt werden, muss der Mensch angenommen werden – durch Menschen, aber letztlich genügen Menschen nicht. Das letzte und eigentliche Angenommen-Sein in unserer Gebrochenheit und in unserer Schuld kann nur von Gott kommen. Und da sagen wir Christen, katholische und evangelische gemeinsam: das geschieht nicht durch unsere Leistung, nicht durch unser Verdienst. Sondern durch Gottes Erbarmen, das wir im Glauben an Jesus Christus als Herrn und Retter ergreifen. Er macht uns im Heiligen Geist „gerecht“, was uns dann freilich auch zu rechtem Tun verpflichtet.