Tod und Auferstehung Jesu sind das Zentrum des christlichen Glaubens schlechthin. Die folgende Predigt zählt zu den überraschendsten und zugleich klarsten, die Bischof Stecher je zu diesem Thema gehalten hat.
Es war ein alter Brauch in der Kirche, dass die Predigt an hohen Festtagen nicht zu lang sein sollte. Ich will mich daran halten. Aber es ist gar nicht leicht, für das Fest der Auferstehung Jesu, das die Fülle unseres Erlöstseins birgt, eine Kurzformel zu finden. Ich will es mit einem Bild versuchen – oder besser: mit einer Erinnerung aus der Schulzeit.
Ich war kein großer Mathematiker. Und so entsinne ich mich mit gemischten Gefühlen der komplizierten Gleichungen mit vielen Zahlen, Buchstaben und unbekannten Größen, mit a und b und x und y. Aber ich erinnere mich, dass bei den ausgedehnten Klammern das Zeichen vor der Klammer entscheidend war: Minus oder Plus – das ist die Frage. Von diesem Vorzeichen hängt alles andere in der Gesamtrechnung ab.
Die gewaltige Klammer des menschlichen Daseins
Nun – ich glaube, man könnte unsere ganze menschliche Existenz, unser ganzes Dasein in eine einzige große Klammer schreiben: mit vielen bekannten und noch mehr unbekannten Größen, mit Wurzeln, die nie ganz aufgehen, wenn man sie nachrechnet, mit Brüchen und Potenzen und vielen Kompliziertheiten und Rätseln, mit a und b und x und y.In dieser Klammer des Daseins stehen Vergangenheit und Zukunft, Erbe und Umwelt, Schuld und Verdienst, Leiden und Lieben, Gemeinsamkeit und Abschied, Ängste und Sehnsüchte, Krankheit und Gesundheit, Einsicht und Irrweg, guter Wille und klägliches Versagen, Krise und Entfaltung, Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit.
Alles steht in dieser gewaltigen Klammer des Daseins, in der schwierigen Formel unserer Existenz. Und angesichts der wenigen Bekannten und vielen Unbekannten geht es uns ähnlich wie dem kleinen Gymnasiasten in der Mathematikschularbeit, der da die Sache klären soll und weiß, dass das Glockenzeichen der Pause immer näher rückt, und dass für die Lösung der Rätsel des Lebens nicht viel Zeit bleibt.
Die Versuchung, ein Minus vor die Klammer zu setzen
Immer schon stand der Mensch sinnend vor dieser großen Klammer des Daseins. Und immer wieder ist er versucht, vor das alles ein Minus zu zeichnen: das Minus der Sinnlosigkeit, der Überforderung, der Resignation, der Verdüsterung, der Verzweiflung und sogar des Zynismus. Dieses Minus finden wir in den Werken der Philosophen, in der Weltliteratur, manchmal auch in der Kunst der Zeit.Aber dieses Minus schreiben manchmal auch einfach vom Schicksal überbelastete Menschen vor die große Klammer des Lebens. Aus Untersuchungen über den Selbstmord im vorgerückten Alter wissen wir, dass ein Hauptmotiv sehr oft die „negative Lebensbilanz“ darstellt. Da ist sie, die große Rechnung mit dem negativen Vorzeichen.
Der kleine senkrechte Strich macht das Minus zum Plus
Und was bedeutet Ostern? Mit der Auferstehung des Welterlösers macht der Unendliche vor die große Klammer des Daseins einen kleinen senkrechten Strich, der aus dem Minus das Plus formt, trotz der vielen Unbekannten, Fragwürdigkeiten, Unsicherheiten und Belastungen. Die Auferstehung Jesu wertet das Dasein um – und so wird sie auch im ganzen Neuen Testament verstanden. Die große Gleichung heißt also: Plus, Klammer auf, und dann folgt die lange Liste mit Schicksal und Schuld, Dunkel und Licht, Angst und Hoffnung, Leben und Tod, Klammer geschlossen, ist gleich: ewiges Heil.
Bischof Stecher hielt diese Predigt am Ostersonntag 1994 im Innsbrucker Dom. Letzter Teil der Serie.