Elisabeth Wertz ist Religionslehrerin und Pastoralassistentin im Südburgenland (derzeit in Elternkarenz).
Vom Kabarettisten Karl Valentin stammt der Satz: „Wenn die stillste Zeit im Jahr vorbei ist, wird es auch wieder ruhiger.“ Finden Menschen heute eigentlich noch Ruhe?
Manfred Scheuer: Es gibt viele Faktoren in unserem Lebensrhythmus, die uns nicht zur Ruhe kommen lassen. Der Arbeitsrhythmus ist im Vergleich zu früher angespannter, schneller, konzentrierter. Im Freizeitrhythmus geht es relativ stark ums Konsumieren. Was fehlt, sind Phasen des Annäherns, des Verkostens und des Ausklingenlassens.
Sind nicht gerade die Weihnachtstage eine Einladung zur Ruhe?
Scheuer: Ob wir in diesen Tagen Ruhe finden, hängt stark davon ab, wie die Tage davor waren. Wenn wir unserer Seele zuvor keine Aufmerksamkeit geschenkt und keine Ruhe verschafft haben, dürfen wir uns nicht wundern, wenn sie dann zu Weihnachten müde ist. Es ist wie beim Urlaub, den ich auch erst genießen kann, nachdem ich einmal ausgeschlafen und so eine gewisse Distanz zur Arbeit gewonnen habe. Vermutlich wird zu Weihnachten mancher ziemlich müde sein.
Wenn viele Menschen dauernd an den sozialen Medien hängen, laufen wir dann nicht Gefahr, die Fähigkeit zur Stille zu verlieren?
Scheuer: Die Fähigkeit zur Stille muss wie die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit eingeübt werden. Wie in der Fastenzeit tut Askese gut: Ich brauche die Stille und das Schweigen, damit ich das Gewicht des Wortes wieder mehr erkenne. Nicht umsonst wird die Mette in der „stillen“ Nacht gefeiert. Der Philosoph Herbert Marcuse hat gesagt, dass es keine freie Gesellschaft ohne die Stille gibt. Denn wo keine Stille möglich ist, werden wir berieselt, bedrängt, beschäftigt und auf diese Weise auch manipuliert. Freiheit hängt mit der Stille zusammen.
Damit mehr Liebe, Freude und Gemeinschaft in die Welt kommt – bei der Wallfahrt im Februar nach Rom haben Sie in einer Predigt die Aufgabe der Christ:innen mit diesen Worten beschrieben. Dass die Liebe in die Welt kommt, ist die Botschaft von Weihnachten. Ist das Fest bei vielen Menschen beliebt, weil es eine universale Sehnsucht anspricht?
Scheuer: Alles beginnt mit der Sehnsucht, hat die Schriftstellerin Nelly Sachs geschrieben. In uns ist die Sehnsucht nach Glück, nach Leben und nach Liebe. In uns ist die Unruhe, die von Gott erst gestillt werden kann. Insofern ist die Sehnsucht eine Spur, ein Antrieb. Allerdings kann Sehnsucht auch zur Falle werden: Nicht umsonst steckt darin das Wort „Sucht“. Die Sehnsucht nach Liebe führt nicht selten zur Übergriffigkeit, manchmal sogar zur Gewalt. Das ist eine Perversion, eine Verkehrung ins Gegenteil. Deshalb braucht es eine Unterbrechung: die Aufmerksamkeit für das Gegenüber. Der Theologe Johann Baptist Metz hat die Unterbrechung als Definition von Religion bezeichnet. Es braucht die Offenheit für Gott. Wer Gott sucht, braucht die Bereitschaft, sich von Gott finden zu lassen.
Konkreter als die Sehnsucht ist die Erwartung. In mancher Hinsicht hat Jesus von Nazareth damals nicht den Erwartungen an den Messias entsprochen ...
Scheuer: Er hat sehr wohl die Sehnsucht nach dem Messias aufgegriffen. Sofern diese Vorstellungen mit Macht oder politischen Ideologien zusammenhingen, hat er sie zwar radikal und buchstäblich am Kreuz durchkreuzt. Aber Jesus hat zum Beispiel Kranke geheilt. Er hat gefragt: Was willst du, dass ich dir tue? Er hat Versöhnung und Frieden gestiftet. All das sind Werke des Messias, der ein Friedenskönig ist.
Das Evangelium nennt Christus den Retter, den Erlöser. Noch vor einigen Jahren wäre man oft schief angeschaut worden, wenn man von der Erlösungsbedürftigkeit der Welt gesprochen hätte. Sieht das einige globale und nationale Krisen später anders aus?
Scheuer: Ich denke das Problem war oft, dass Erlösungsvorstellungen zum einen nicht mit Respekt vor der menschlichen Freiheit und Verantwortung Hand in Hand gingen. Zum anderen waren sie zu stark auf die Frage der Sünde fokussiert. Letztlich steckt dahinter die Erkenntnis, dass ich mir das Leben, das Glück, den Himmel nicht einfach nehmen oder erschaffen kann. Ich kann um die Liebe eines Menschen betteln, aber wenn es wirklich Liebe ist, muss sie mir frei geschenkt werden. Deshalb gehören zur Erlösung Gnade und Freiheit. Gnade ist nicht die Huld eines Monarchen, sondern die Ermächtigung zur Freiheit, die Ermöglichung des Lebens, die Zusage: Da kannst Ja zum Leben sagen. Beim Werk der Erlösung ist unser Mittun gefragt. Schon im 13./14. Jahrhundert hat der Theologe Johannes Duns Scotus gesagt, dass Gott Mitliebende will.
Bedeutet das, dass man sich angesichts der Krisen dieser Welt nicht einfach ins Innere zurückziehen darf?
Scheuer: Ich würde hier keinen Gegensatz zwischen innen und außen sehen. Der frühere UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld war ein Mystiker und ist die Reise nach Innen gegangen. Dennoch war er politisch einflussreich und ein Friedensstifter. Mystik und Politik hängen insofern zusammen, als es ein starkes inneres Rückgrat braucht, um angesichts der gegenwärtigen Lage nicht zu resignieren. Es braucht eine starke innere Überzeugung, um sich nicht von Gewalt, Tyrannei, aber auch Dummheit einschüchtern zu lassen. Innerlichkeit ist eine Widerstandskraft gegen das Böse.
Friede den Menschen auf Erden, heißt es im Weihnachtsevangelium. Die Vorstellungen gehen dazu heute weit auseinander: einerseits „Frieden schaffen ohne Waffen“, andererseits Aufrüstung zur Friedenssicherung. Liegt ein vertretbarer Weg dazwischen?
Scheuer: Die Überzeugung, dass Frieden möglich ist, steht im Evangelium. Dem entspricht die Friedensethik der Päpste des 20. Jahrhunderts, vor allem von Johannes XXIII. Aber das ist kein Pazifismus ohne Koordinaten. Zum Koordinatensystem des Friedens gehört, dass er kein Diktat und nicht mit Ausbeutung verbunden sein darf. So etwas hat nicht auf Dauer Bestand, vielmehr kommt der Konflikt immer wieder hoch. Deshalb ist in der Friedensethik nicht mehr die Rede vom gerechten Krieg, sondern vom gerechten Frieden. Die Friedensethik kennt auch den gerechtfertigten Eingriff, die begrenzte Anwendung von Gewalt, um angesichts des Angreifers ein größeres Unheil zu verhindern und Opfer zu schützen. Das ist differenziert zu behandeln, rechtfertigt keineswegs alles und setzt die vorangehende Anwendung gewaltloser Mittel voraus.
Kommen wir zu einem anderen Thema: Am 17. Jänner werden es zehn Jahre, dass Sie Bischof von Linz geworden sind. Wie hat sich die Diözese, wie hat sich das Land in dieser Zeit verändert?
Scheuer: Es sind viele Menschen mit gutem Willen am Werk, es gibt eine lebendige Kultur des Glaubens und einen guten Grundwasserspiegel der Solidarität. Natürlich merke ich auch, dass es in manchen Bereichen schwieriger geworden ist, dass etwas vom kirchlichen Leben abgebrochen ist. Auch in der Kirche gibt es Tendenzen, dass wir nicht mehr so gut miteinander können oder wollen. Es ist meine Aufgabe, Realist zu sein. Die Reformen in der Pfarrstruktur und bei den diözesanen Diensten sind eine Reaktion auf die Veränderungen. Aber damit können wir nur die Rahmenbedingungen schaffen, damit Menschen sich einbringen können. Was letztlich herauskommt, hängt stark von der inneren Überzeugungskraft, von der Lebendigkeit ab. Grundsätzlich bin ich dankbar und feiere in diesem Sinne Eucharistie, die Feier der Danksagung. Aber ich bitte auch um Heilung und Versöhnung, weil ich weiß, dass es gar nicht so wenige Verwundungen und Unversöhntheiten gibt, die schwer aus der Welt zu schaffen sind. Ich wünsche mir nicht nur eine Weite und Breite des kirchlichen Lebens und des Glaubens, sondern auch eine Vertiefung und Intensivierung. Es braucht jene, die im Kern der Gemeinschaft beten, feiern und glauben, damit andere, Suchende dazukommen können.
Das führt zurück zur Frage: Wie stellen wir es an, dass durch uns mehr Liebe in die Welt kommt?
Scheuer: Liebe in diesem Sinne ist nicht zuerst ein Gebot oder ein Vorsatz und schon gar kein moralisches Kommando, sondern ein Antwortgeschehen. Im ersten Johannesbrief wird deutlich, dass Gott uns zuerst geliebt hat. Liebe ist eine Antwort, zum Beispiel auf das Weihnachtsgeschehen oder auf das, was uns Jesus mit seinem Leben, Sterben und seiner Auferstehung geschenkt hat. Ein erster Schritt ist also die Frage: Wo ist denn schon Liebe da? Wo werde ich geliebt? Dann fragen wir nach unseren Möglichkeiten zu lieben. Das kann durchaus im Kleinen sein. Bei der Brotvermehrung steht zunächst die Haltung im Raum: Wie wenige Brote und Fische haben wir angesichts der vielen Menschen! Oder ins Heute gewendet: Wie begrenzt sind unsere Möglichkeiten! Die Logik Jesu ist jedoch, das zu tun, was wir jetzt tun können. Liebe bemisst sich nicht nach quantitativen Maßstäben, sondern nach einem Maßstab des inneren Wachstums.

Elisabeth Wertz ist Religionslehrerin und Pastoralassistentin im Südburgenland (derzeit in Elternkarenz).
Turmeremitin Birgit Kubik berichtet über ihre Woche in der Türmerstube hoch oben im Mariendom Linz >>