Toleranz ist eine Grundhaltung der Aleviten. Im Nebeneinander der Religionen könnten sie eine Brücke zum Miteinander bilden. In Österreich stellen sie mit rund 80.000 Mitgliedern eine kleine religiöse Minderheit dar. Sie fürchten, dass es ihnen hier ähnlich geht wie in ihrem Herkunftsland, der Türkei: dass sie im Islam eingeebnet werden. Ein Besuch bei den Aleviten in Wels.
„Österreich versteht uns nicht“, sagt Fatos Kücükuncular. Seit sie vier ist, lebt die engagierte Alevitin in Österreich. Es ist Samstag Abend, am Ende der zweiten Februarwoche. Das ist die Woche des Hizmir,
eines der Schutzpatrone im Alevitentum. Drei Tage wurde diese Woche gefastet. Bei den Aleviten in Wels findet heute der Cem-Gebetsabend statt. Fatos ist aus Perg hergekommen. Rund 200 Frauen, Männer und Kinder füllen den Saal. Auf Teppichen sitzen sie am Boden. Der alevtische Geistliche Ercan Sinci ist aus St. Pölten angereist, um die Zeremonie zu leiten.
Die meisten der rund 80.000 Aleviten in Österreich kommen aus Anatolien in der Türkei. In ihren Heimatdörfern gibt es kaum Schulen und Arbeitsplätze. Als „Gastarbeiter“ waren sie in Österreich und Deutschland lange willkommen. Und sie haben ein Problem: In der Türkei will die Regierung diese rund 15 Prozent der Bevölkerung mit dem Islam gleichschalten. In Österreich fürchten sie nun dasselbe: Zwar hat der Staat 2013 die „Islamisch-Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich“ (ALEVI) anerkannt. Doch die islamische ist nur die kleinere der alevitischen Richtungen. Die meisten Aleviten in Österreich wollen jedoch nicht mit dem Islam in Verbindung gebracht werden – und legen Wert auf die Anerkennung ihrer eigenen Glaubenstradition. Diese beinhaltet Elemente aus verschiedenen Religionen. Aleviten respektieren die Thora, die Psalmen, den Koran und die Bibel als die vier Heiligen Bücher – aber kein Buch kann ihrer Lehre nach die Wahrheit ganz beinhalten. Deshalb widerspricht jeder Fundamentalismus dem alevitischen Glauben. Gott ist größer als die Schriften. Auch heilige Schriften bedürfen der Deutung und Auslegung.
Wert der Freiheit
Im schlichten, von Neonröhren beleuchteten Gebetsraum erlebt man den Unterschied: Die Vorschriften des Islam gelten hier nicht. Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Kopftuch oder nicht, wie und wie oft man betet – es bleibt der Freiheit überlassen.
Der alevitische Glaube ist eine sehr feinfühlige Religion, die nicht in die Sprache von Gesetzen und Vorschriften gefasst ist. Überliefert wurde die Lehre in vielen Liedern und Gedichten. Diese mündliche Überlieferung hat große Bedeutung, konnten doch in Anatolien viele Menschen nicht lesen und schreiben. Begleitet von der „Saz“, einer siebensaitige Laute, wird der Glaube in Liedern, Zeichen und Tänzen beim Gottesdienst zum Ausdruck gebracht.
Einen Christen wird vieles beim Cem-Gebet an eigene
Riten erinnern. Mit einem Besen wird zu Beginn wie beim Bußakt der Messe das Böse symbolhaft hinausgekehrt. „Diener“ gießen Wasser über die Hände des Vorsitzenden – dann über die Hände des Jüngsten. Sie tragen das Licht herein, drei Kerzen werden entzündet: Sie stehen für Allah, Mohammed und Ali. Die drei Namen werden stets in einem Atemzug genannt. Auf Ali, Mohammeds Schwiegersohn und Neffen, geht der Name Aleviten zurück.
Mit dem Herzen beten
Besonders das „Lokma“ spielt eine große Rolle. Wer zum Beten kommt, nimmt Brot, Obst oder auch andere Speisen mit. Alles wird auf einem großen Tuch zusammengelegt. „Betet nicht mit den Knien, sondern mit den Herzen“, hat der Gelehrte Haci Bektas Veli gelehrt. Also wird geteilt, besonders mit Armen. Die Aleviten unterstützen Flüchtlinge, sie schickten Hilfe ins bedrängte Kobane in Syrien, als die Stadt vom Islamistischen Terrorstaat angegriffen wurde.
Der alevitische Glaube leitet an zur Toleranz. Also ruft Ercan Sinci in seiner Ansprache zur Toleranz auf, auch in politisch schwieriger Zeit. Er erwartet sich von Österreich Anerkennung. Warum nur der islamische kleinere Zweig der Aleviten anerkannt wurde, der eigenständigen Richtung aber die Anerkennung verwehrt bleiben soll, kann Ercan Sinci nicht verstehen. So fürchten die Aleviten, dass mit ihnen auch hier passiert, was in der Türkei geschieht. Wie die Kurden werden die Aleviten dort benachteiligt. Man will sie islamisieren. In ihre Dörfer baut man Moscheen. Aleviten beten nicht in Moscheen, sondern in ihren „Cem-Häusern“.
Demonstration in Wien
In Wels haben die Aleviten ihr Vereinsgebäude gekauft. Dafür hat jedes Mitglied jahrelang monatlich 50 Euro bezahlt. Jetzt kommt man wieder mit 25 Euro im Monat aus. Im Haus findet reges Leben statt. Täglich übernimmt eine andere Familie die Versorgung der Gäste. Auch der Glaube wird hier an die jungen Menschen weitergegeben. Im staatlich erlaubten islamisch-alevitischen Unterricht wird auf den alevitischen Glauben kaum eingegangen. Mit „Herz und Seele“, sagt Ercan Sinci, „wollen wir für unsere Anerkennung kämpfen.“ Am 27. Februar werden die Aleviten in Wien gegen eine „Zwangsislamisierung“ auf die Straße gehen.
Mit der Verteilung des Lokma erreicht die Feier ihren Schlusspunkt. In Körben werden Brot und Obst hereingetragen und verteilt. Niemand darf am Cem-Abend hungrig bleiben.