Ist es wirklich so, dass ein schwer behindertes Kind keine Chance auf ein glückliches Leben hat? Oder nur eine unzumutbare Belastung ist? Der österreichische Gesetzgeber leistet dieser weit verbreiteten Einstellung Vorschub.
In Vorarlberg ist im Jahr 2002 kein einziges Kind mit Down-Syndrom geboren worden. „Da man diese Art der Behinderung durch die vorgeburtliche Diagnostik relativ gut erfassen kann, entkommen der ärztlichen ,Rasterfahndung‘ offenbar immer weniger. Frauen, die oftmals ohne ausreichende Beratung diesen Untersuchungen unterworfen werden, geraten dabei unter einen riesigen Druck“, meint Gabriele Nussbaumer.
Da die Vorarlberger Landtagsabgeordnete selber Mutter eines schwer behinderten Sohnes ist, hat sie viele Kontakte zu Familien in einer ähnlichen Situation. Und „wir spüren ein wachsendes Unverständnis für Eltern mit behinderten Kindern, die man ja nicht mehr bekommen müsste. Man tut heute fälschlicherweise so, als ob es eine Garantie für ein gesundes Kind gäbe.“ Dass sich unter diesen Umständen viele für eine Abtreibung entscheiden, wenn die Untersuchungen auf eine Behinderung ihres Kindes hinweisen, dürfe nicht verwundern, meint Nussbaumer.
Erst der Anfang
Nachdrücklich bestätigt wurde diese Beobachtung bei einer Tagung der „Aktion Leben“ Ende Jänner von der Frauengesundheitsforscherin Irmgard Nippert. Nach ihrer Studie werden in Deutschland fast 90 Prozent aller Schwangerschaften nach einem positiven Down-Syndrom-Befund abgebrochen. Das sei erst ein Anfang, meinte Nippert. Da immer mehr Erkrankungen genetisch diagnostizierbar seien, sei mit einer Zunahme der pränatalen Untersuchungen zu rechnen. Das habe zur Folge, dass immer mehr Frauen (Eltern) vor der Frage stehen, eine behindertes Kind zu bekommen oder abzutreiben.
Eine Zumutung
In diesem Zusammenhang spiele die Gesetzeslage in Österreich – auch was die Bewusstseinsbildung angehe – eine besondere Rolle, meint Gabriele Nussbaumer. Das Strafgesetzbuch toleriert die Abtreibung über die Drei-Monats-Frist hinaus bis unmittelbar vor der Geburt, wenn „eine ernste Gefahr besteht, dass das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein werde“. Österreich ist das einzige EU-Land, das die so genannte embryopathische oder eugenische Indikation vorsieht und per Gesetz ausdrücklich behinderte Kinder weniger schützt als nicht behinderte. „Ich empfinde das als arge Zumutung, wenn der Staat so tut, als wäre es seine Aufgabe, Eltern – oder gar die Gesellschaft? – vor behinderten Kindern schützen zu müssen“, kritisiert Nussbaumer.
Der nach einem Impffehler im Babyalter auf den Rollstuhl angewiesene ÖVP-Abgeordnete Franz-Joseph Huainigg stößt in dasselbe Horn:„Hier wird auf unerträgliche Weise, die mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt, vom Gesetzgeber zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben unterschieden.“ Eine Kritik, die seit Jahren auch von den Behindertenorganisationen und von der „Aktion Leben“ vorgebracht wird.
Änderung gefordert
Im Jahr 2000 beschloss der Vorarlberger Landtag eine Intervention zur Streichung der eugenischen Indikation. Nachdem diese im Sozialministerium ergebnislos versandet ist, startete Nussbaumer im vergangenen Herbst mit Unterstützung von Behindertenorganisationen eine Bürgerinitiative. Sie wurde vor kurzem – unterstützt von einer Petition des Abgeordneten Huainigg – im zuständigen Ausschuss des Nationalrates behandelt und ohne Ergebnis auf die nächste Sitzung verschoben. Nachdrücklich fordern jetzt Huainigg und Nussbaumer, dass im Zuge des geplanten Behinderten-Gleichstellungsgesetzes auch das diskriminierende Abtreibungsgesetz geändert wird.
Ende der Spätabtreibung
Neben der Streichung des „Behinderten-Paragraphen“ (eugenische Indikation) strebt Huainigg auch eine Begrenzung der Frist für Spätabtreibungen an. Dahinter steht die Erfahrung, dass es auch in vielen anderen Ländern Spätabtreibungen behinderter Kinder gibt. Sie erfolgen über die sogenannte medizinische Indikation (Gefahr für das leibliche oder psychische Wohl der Mutter). „Abtreibungen nach der 22. Schwangerschaftswoche sollten generell verboten sein. Es ist ethisch unvertretbar, lebensfähige Kinder nach der eingeleiteten Frühgeburt einfach zwei, drei Tage sterben zu lassen oder sie vorher mit einer Herzinjektion zu töten.“
Nicht allein lassen
Nussbaumer und Huainigg wissen aber auch, dass es mit Gesetzesänderungen allein nicht getan ist. „Wir dürfen die Frauen (Eltern) nicht so allein lassen, wenn es um vorgeburtliche Untersuchungen (pränatale Diagnostik) geht“, meint Huainigg. Die Ärzte stünden selber unter Druck, da sie für unterlassene oder fehlerhafte Diagnosen haften. Und so würden alle derzeit möglichen Untersuchungen gemacht, ohne dass das die Frauen (Eltern) immer wollen. „Deshalb brauchen wir ein flächendeckendes Angebot unabhängiger psychosozialer Beratungsstellen, die mit entsprechend geschulten Fachkräften in der Lage sind, die Betroffenen zu begleiten und wo auch offen die Lebensperspektiven mit einem behinderten Kind angesprochen werden.
Ich kann mir gut vorstellen, dass in dieses Angebot auch Kontaktmöglichkeiten mit betroffenen Familien eingebaut werden“, meint Huainigg. Denn seiner Meinung nach haben Menschen, die persönlich Behinderte bzw. deren Familien kennen, eine andere Einstellung. Eine Erfahrung, die auch Gabriele Nussbaumer immer wieder macht. Und offen meint sie: „Ich wüsste auch nicht, ob ich mich so gegen die Diskriminierung Behinderter engagieren würde, hätte ich meinen Sohn nicht. In diesen 28 Jahren mit ihm habe ich gelernt, was Leben bedeutet, um wieviel tiefer auch mein Leben geworden ist. Durch ihn habe ich viel Glück, Zufriedenheit und eine andere Wertigkeit bekommen. Dadurch habe ich auch viel mehr Verständnis für schwierige Lebenssituationen anderer Menschen.“
Große Herausforderung
Als sie für ihre Bürgerinitiative um Unterstützung warb, habe sie wiederholt erlebt, wie schwierig es ist, Menschen zu überzeugen, dass behinderte Kinder nicht nur eine Last für die Eltern und ein Kostenfaktor für die Gesellschaft sind, sondern ein großer Schatz, meint Nussbaumer. In einer Zeit, in der der Mensch nur was zählt, wenn er überall mithalten kann, sieht Huainigg eine große Herausforderung. „Wir müssen viel mehr in die Öffentlichkeit gehen und zeigen, dass man auch als behinderter Mensch glücklich leben kann, dass das nicht nur ein trauriges und tristes Dahinleben ist, sondern dass es viele schöne, lebenswerte Seiten gibt. Ich erfahre immer wieder, dass behinderte Kinder und Jugendliche nicht nur Sorgen bereiten, sondern auch eine geradezu ansteckende Lebensfreude vermitteln.“
Das Zitat
Franz-Joseph Huainigg: Wenn ich gegen die „eugenischen Indikation“ eintrete, dann geht es mir nicht um die Abschaffung der Fristenregelung oder die Bestrafung der Frauen. Ich will nur, dass für behinderte Kinder im Mutterschoß dieselben Regeln gelten wie für nicht behinderte Kinder. Es ist ein großes Unrecht, wenn der Gesetzgeber ausdrücklich festschreibt, dass behinderte Kinder auch nach der Drei-Monats-Frist unbegrenzt straffrei abgetrieben werden dürfen. Damit unterstützt der Staat die leider weit verbreitete irrige Meinung, dass ein Leben mit Behinderung kein glückliches und lebenswertes Leben sein kann. Ich kenne persönlich viele Kinder und Jugendliche mit Down-Syndrom, die gut integriert und voll ansteckender Lebensfreude sind. Gerade sie werden durch die pränatale „Rasterfahdung“ aber immer öfter „aussortiert“.
Gabriele Nussbaumer: Ich bedaure sehr den wachsenden Druck, dem Eltern behinderter Kinder ausgesetzt sind. Statt mitfühlender Anteilnahme oder Unterstützung erleben sie immer öfter Unverständnis, ein behindertes Kind auf die Welt gebracht zu haben, was ja heute gar nicht mehr nötig wäre. Unerträglich finde ich, dass unser Abtreibungsgesetz derartigen Einstellungen Vorschub leistet
Reaktionen
Schmerzliche Blockade
Am 10. März befasste sich der Petitionsausschuss des Nationalrates mit der Streichung der Abtreibungs-Sonderregelung für behinderte Kinder. Nach einer kurzen, aber sachlichen Debatte einigte man sich auf eine Vertagung auf Juli. Bis dahin sollte auch der Entwurf für ein Behinderten-Gleichstellungsgesetz vorliegen. Nach der Sitzung kam es allerdings zu polemischen Stellungnahmen. Die grüne Abgeordnete Haidlmayr warf der ÖVP vor, Behinderte zu missbrauchen, um die Fristenlösung abzuschaffen. Die SP-Frauenchefin Prammer meinte, „die Frauen zu kriminalisieren, ist der falsche Weg“.Gertraude Steindl von der Aktion Leben zeigte sich über diese Reaktionen enttäuscht. „Auch 30 Jahre nach Einführung der Fristenregelung kann man offenbar immer noch nicht ohne Verdächtigungen über Schwangerschaftsabbrüche reden. Damit wird auch ein so wichtiges Thema, wie Menschen mit Behinderungen von Anfang an gleichbehandelt werden können, blockiert.“ Auf Initiative der Aktion Leben wurden vor zwei Jahren erstmals 18 Beraterinnen zur Begleitung von Frauen bei pränatalen Untersuchungen ausgebildet.
Zur Sache
Spätabtreibungvermeiden
Auch in Deutschland gibt es das Problem, dass Kinder, die bereits lebensfähig wären (nach der 22. Schwangerschaftswoche), abgetrieben werden, nachdem eine mögliche Behinderung festgestellt wurde. Offiziell sind es rund 200 Abbrüche im Jahr, die Dunkelziffer dürfte bei 800 Spätabbrüchen liegen. Für Österreich spricht Professor Husslein vom AKH-Wien von zehn Spätabtreibungen. Auch hier dürfte die tatsächliche Zahl deutlich höher liegen. In Deutschland sehen – im Unterschied zu Österreich – Politiker/-innen aller Fraktionen Handlungsbedarf, um die Zahl der Spätabtreibungen zu senken. Seit Herbst 2003 liegt im Bundestag der von der CDU/CSU eingebrachte Antrag „Vermeidung von Spätabtreibungen – Hilfen für Eltern und Kinder“. Darüber laufen seit Wochen ernsthafte fraktionsübergreifende Verhandlungen. Die Expert/-innen der Parteien hoffen, bis Sommer eine gemeinsame Lösung zu finden. Im Kern geht es darum, jeder Frau eine umfassende psychosoziale Beratung vor, während und nach der vorgeburtlichen Diagnostik anzubieten und die ärztliche Haftungspflicht einzuschränken.