Eine Schneidermeisterin aus Steyr verarbeitet antike Stoffe zu neuen Kleidern
Ausgabe: 2006/12, Bewusst leben, Schneidermeisterin, Schneider, Musenbichler, Handwerksberuf, alte Stoffe,
23.03.2006
DCF 1.0
Viele junge Schulabgänger sind zur Zeit auf der Suche nach einer Lehrstelle. Für dietypischen „alten“ Handwerksberufe wie Schuster, Tischler oder Schneider kann sich aber heute fast niemand mehr begeistern.
Waltraud Musenbichler aus Steyr ist seit 21 Jahren Schneidermeisterin. „Ich habe schon einige Lehrmädchen gehabt, aber die wollten alle nach der Lehrzeit doch etwas anderes machen“, erzählt sie ein wenig enttäuscht. Am Anfang waren die jungen Mädchen mit Feuereifer dabei, doch bald ist ihnen die Arbeit mit Nadel und Faden wohl langweilig und zu anstrengend geworden. Manche haben vielleicht mit Blick auf die billigen Kleider „von der Stange“ auch keine Zukunftschancen in diesem Handwerk gesehen.
Handwerksberuf mit vielen Facetten. Eine ältere Kundin betritt den kleinen Laden und möchte ihren Rock umändern lassen. „Wissen Sie“ erklärt sie der Schneiderin, „ich bin ein bisschen dicker und ein wenig kleiner geworden, aber der Rock ist aus einem guten Stoff. Den habe ich mir gekauft, als meine Tochter ihren Schulabschluss hatte, und die ist mittlerweile schon wieder fünfzig Jahre alt.“ Solche kleinen Änderungsarbeiten gehören zum täglichen Geschäft einer Schneiderin – genauso wie die Maßanfertigung von modernen Kostümen, Hosen oder Mänteln. Und mit ein wenig Mut, Leidenschaft und Kreativität kann man auch in diesem Handwerksberuf sehr erfolgreich sein. So wie Frau Musenbichler. Ihre wahre Leidenschaft gilt der Verarbeitung von alten Stoffen.
Alte Stoffe fürs neue Gewand. „Früher waren die Mehlsäcke mit dem Christussymbol IHS, dem Namen und der Ortschaft des Bauern sowie mit einer fortlaufenden Nummer bedruckt“, erzählt sie begeistert. „Diese Sackteile verarbeite ich zu Schürzen für Dirndlkleider, Hosen, Hemden oder als Rückenteile von Mänteln.“ Neben Vorhängen, Decken und Stoffen aus dem Biedermeier oder Jugendstil verwendet Musenbichler besonders gerne altes Bauernleinen: „Der Stoff ist zwar etwas dicker und nicht ganz so gleichmäßig wie ein maschinengewebtes Leinen, aber so habe ich wenigstens das Gefühl, dass ich ,etwas‘ anhabe. Für mich ist Kleidung wie eine Wohnung, das heißt, ich muss mich darin wohl fühlen. Das erkläre ich so auch meinen Kunden und sage ihnen immer ziemlich direkt, was ihnen meiner Meinung nach steht oder nicht!“
Wildes Gnu und uralter Leopard. Die gelernte Herrenschneiderin ist auch ungewöhnlichen Aufträgen nicht abgeneigt. „Ein Kunde hat von einem Jagdausflug das Fell eines wilden Gnus mitgebracht, aus dem ich ihm eine Jacke angefertigt habe. Für eine andere Kundin mache ich gerade aus einem alten Leopardenfell, das sie von ihrer Großmutter geerbt hat, eine schicke neue Jacke. Warum sollte man das alte Fell vergammeln lassen, wenn sich daraus etwas Schönes anfertigen lässt?“, zeigt sich Musenbichler von ihrer praktischen Seite. Es muss nicht immer ein High-Tech-Beruf sein – manch eine(r), die/der sich vor der Arbeit nicht verschließt, kann auch in soliden Handwerksberufen sein Lebensglück finden.
Thema alte Handwerkskunst: siehe auch Artikel \"Zeigt her eure Schuhe\"