Für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung ist es schwer, am ganzen Leben teilzuhaben
Ausgabe: 2006/19, Arbeit, Beziehung, Winkler, Lebenshilfe, Behinderung, Schloss Hartheim, Kucera
11.05.2006
- Kirchenzeitung der Diözese Linz
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„Der Fortschritt ist eine Schnecke!“ So lautet die Schlagzeile, die die Lebenshilfe Österreich in ihrer jüngsten Zeitschrift „Menschen brauchen Menschen“ dem Artikel gibt, in dem sie die Situation von Menschen mit intellektueller Behinderung seit 1945 darstellt.
ERNST GANSINGER
„Wie ist die Situation heute, 61 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus?“, fragte Beate Winkler, Direktorin der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, in ihrer Gedenkrede im Schloss Hartheim am 6. Mai. (Der Nationalsozialismus hat 200.000 Menschen mit psychischer und geistiger Beeinträchtigung ermordet.) Winkler kam auch auf einen jüngsten Vorfall in Niederösterreich zu sprechen: „Unsere Aufgabe ist es, wahrzunehmen und aktiv zu werden, wenn wir zum Beispiel hören, dass behinderten Menschen die Kommunion verweigert wird.“ Hier werden alte Denk- und Handlungsmuster von Abwertung und Entrechtung wieder lebendig.
Etwa 48.000 Menschen in Österreich, ca. 0,6 Prozent der Bevölkerung, haben eine intellektuelle Behinderung. Der Begriff „geistige Behinderung“ diskriminiert, weil damit abwertende Assoziationen verbunden sind. Im Dezember 2005 konnten im österreichischen Parlament Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung über ihre Wünsche, Anliegen und Sorgen reden. Politiker hörten zu.
Teilhabe am ganzen Leben. Die Vorschläge in eigener Sache, die die Selbstvertreterinnen und Selbstvertreter der Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen und Lernschwierigkeiten vorbrachten, zielen auf die gleichberechtigte Teilhabe an den Lebensvollzügen. Regelmäßige Sendezeiten im ORF für die Anliegen und die Lebensumstände von Menschen mit Lernschwierigkeiten gehören ebenso dazu wie die Erhöhung des Taschengeldes für die Arbeit in Beschäftigungseinrichtungen und insgesamt die Frage, wie sehr das Arbeitsrecht für diese Gruppe gilt, inklusive Pensionsansprüche und Versicherung ... Angesprochen wurde der Wunsch, dass es für die Assistentinnen und Assistenten mehr Geld gibt, damit mehr Assistenzleistungen und damit ein selbstbestimmteres Leben möglich wird. Große Sorgen bereitet die Frage, wie Menschen mit intellektueller Beeeinträchtigung im Alter wohnen werden, wenn etwa die Eltern bzw. Geschwister, bei denen viele von ihnen derzeit wohnen, nicht mehr am Leben sind. Ein heißes Thema ist natürlich die Sexualität, das Recht auf Partnerschaft: Wie können Menschen mit Behinderung Sexualität leben?
zur sache
Selbstvertretung
„Der wichtigste Punkt ist die Schaffung von Lebensraum“, sagt der Präsident der Lebenshilfe Oberösterreich, Ing. Franz Weiß. Es brauche in den nächsten fünf Jahren 300 Plätze für betreutes und teilbetreutes Wohnen. Mario Kucera und Michaela Zierhofer sind Selbstvertreter in der Fachwerkstätte der Lebenshilfe Linz-Urfahr. Sie sind Ansprechpersonen, wenn es um Sorgen und Fragen in Zusammenhang mit der Tagesheimstätte geht, die Hilfe durch Beschäftigung bietet. Sie sprechen natürlich auch über die Sorgen darüber hinaus. Etwa übers Wohnen im Alter. „Wenn meine Mutter einmal nicht mehr da ist, bei der ich derzeit wohne, möchte ich auch in der Wohnung bleiben“, sagt Mario Kucera. Dafür sollte mehr Geld zur Verfügung stehen, um die notwendigen Assistenzleistungen finanzieren zu können. Mehr Informationen über ihre Rechte sind auch ein wesentliches Anliegen. Wichtig ist auch, so Ing. Weiß, dass es für Menschen, die sowohl intellektuell behindert als auch verhaltensauffällig sind, Therapieeinrichtungen gibt. Für die Freizeit-Gestaltung hofft er auf Ehrenamtliche, denn über die Tagsätze ist das nicht zu regeln. „Vor allem die nicht behinderten Menschen brauchen Information, damit sie ihre Ängste und Vorurteile abbauen“, sagt Mario Kucera.