„Das Ruhegebet ist eine vorzügliche Wegweisung für alle Menschen, die mitten in unserer angespannten und überfüllten Welt nach einer ruhigen Zeit suchen und nach einem umfassenden Zusammensein mit Gott.“ Das sagt der bekannte geistliche Schriftsteller und Begleiter Henri Nouwen.
Johannes Cassian, der Mönchsvater (360– 435), brachte das Gebet der Ruhe als christliches Gebet ins Abendland. Diese frühe mönchische Spiritualität hat als eine Quelle christlichen Lebens ihre Aktualität bis heute nicht verloren. Unsere christliche Gegenwart ist von tiefer Sehnsucht nach Verankerung im Glauben und Gotteserfahrung erfüllt und sucht nach alten christlichen Quellen mit gangbaren Wegen. Cassian fasste seine mit den Mönchsvätern in der ägyptischen Wüste geführten Gespräche und seine eigenen Lebens- und Gebetserfahrungen zu einer Schrift „24 Unterredungen mit den Vätern“ zusammen. Zu seinen wichtigsten Lehrern gehörte Evagrius Pontikus (345–399).
Alles wird Gebet. Für Cassian ist das Ruhegebet ein umfassendes Gebet, das ständig – immer und überall – einen Zugang zu Gott ermöglicht. Sein tiefes Anliegen ist es, dass der Betende durch alles in seinem Leben eine Begegnung mit dem Schöpfer erfährt, dem Urgrund allen Seins, mit Gott, der die Liebe ist. Cassian möchte seine Schüler in eine solche Weite des Bewusstseins führen, in der jede Wahrnehmung zu einer Gottesbegegnung wird. Wie Cassian in seiner Zeit durch seine gelebte Spiritualität und seine Werke, die Wissen und Erfahrung verbinden, für viele ein großer Anstoß war, so dürfte auch heute sein Ruhegebet eine Herausforderung sein, aus der Grauzone, der Routine des Alltags und der Mittelmäßigkeit des Glaubens herauszutreten, um Entgrenzung zu erfahren.
Was im Wege steht. Im Gegensatz zur orthodoxen Kirche und der Tradition auf dem Berg Athos, wo bis heute das Ruhegebet in voller Blüte steht, geriet es im Westen durch eine zunehmende „Verkopfung“ in Vergessenheit. Aus diesen Gründen wurde das Ruhegebet von der abendländischen, westlichen Welt mehr und mehr zurückgedrängt, während es in der Ostkirche immer lebendig geblieben ist – bekannt auch als „Herzensgebet“. Dabei wird in einer längeren Phase der Ruhe der Ruf „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner“ beständig wiederholt.
Gebet der Hingabe. Im Sinne von Cassian bedeutet Beten, alles aufzugeben: Gedanken, Gottesbilder, Vorstellungen, den eigenen Willen ... Evagrius Pontikus lehrte Cassian das Ruhegebet, ein rein geistliches Gebet, frei aller Bildlichkeit. Gott darf nicht irgendwie vorgestellt oder vor Augen geführt werden. Es geht um ein völlig bildloses Anschauen – „mit den reinen Blicken der Seele“. Cassian beschreibt genau die Methode des Gebetes. Ein einziger kurzer Satz wird als Mittel benutzt, in seiner Wiederholung die nötige Stille zu erlangen. Die Fülle der Gedanken wird durch die strenge Armut eines einzigen Verses mehr und mehr reduziert. Dieser Prozess tiefer Ruhe für Körper, Geist und Seele reinigt das Nervensystem und die Psyche. Er führt somit letztlich zur Reinheit des Herzens. Durch das Ruhegebet wird die Reinheit des Herzens zu einem andauernden Zustand, der einen entscheidenden Wendepunkt auf dem Weg des Christen darstellt. Das Ruhegebet vermittelt intuitive Erkenntnis der Einfachheit und führt letztlich zu einem erfahrungsmäßigen Wissen um Gott.
Einfach vor Gott sein. Freude am Einfach-Dasein wird im Gebet erlebt. Wenn aller „Besitz“ aufgegeben wird, dann steht der Betende in absoluter Einfachheit vor Gott. Der Geist kann ganz einfach und leicht in der strengen Armut einer kurzen Anrufung schwingen. Im Ruhegebet leben und atmen wir die Armut immer mehr. Dies geschieht in der einfachen, in sich selbst schwingenden Ruhe, die den Reichtum der ganzen Schöpfung in sich enthält, die Ruhe, von der auch am siebten Schöpfungstag Gott selbst spricht.