Was kann einer Mutter, was kann einer Familie, Schlimmeres passieren, als ein Kind zu verlieren? Mutter Mariam Rahimi hat ihren Sohn Mohamad auf der Flucht nach Österreich verloren. Hier kam sie hilflos, sprachlos, informationslos an. Nach drei Monaten Ungewissheit wurde der Bub in Ungarn gefunden. –
Die Freude ist übergroß.
Die dreizehnjährige Zahra und der elfjährige Aleresa kommen – wie die übrigen Mitglieder der Familie Rahimi – gerne zu Schulleiter Josef Pühringer in die Volksschule Neufelden. Sie erzählen, holen sich Rat. Er ist ihnen, seitdem sie am 7. Dezember 2011 in Neufelden angekommen sind, zum Freund und Nothelfer geworden. Und ihre Not war übergroß: Eines der vier Kinder wurde auf der Flucht verloren und war bis vor einer Woche vermisst. Der Vater ist noch vermisst, er ist wahrscheinlich in Griechenland.
Es hat alles so schnell gehen müssen. Irgendwo auf dem Fluchtweg, wahrscheinlich schon nach der griechischen Grenze, mussten die afghanischen Flüchtlinge im Dunkel der Nacht vom Zug auf einen LKW umsteigen. Plötzlich war da Polizei. Im Tohuwabohu brauste das Fluchtgefährt davon. Jetzt erst merkte die Mutter, dass das jüngste Kind fehlte. Alle Vorsichtsmaßnahmen – alle Familienmitglieder haben sich an den Händen gehalten – haben versagt. Als sie in Österreich angekommen sind, hat zunächst wahrscheinlich die Einschüchterung der Schlepper gewirkt, keine Angaben zu machen. So kam erst einige Tagen später eine Lehrerin in Neufelden drauf – als sie mangels sprachlicher Verständigungsmöglichkeit die Kinder zeichnen ließ –, dass es vier Geschwister Rahimi geben muss. Nur drei aber waren in Neufelden. Direktor Josef Pühringer erinnert sich, dass die Mutter immer so traurig war, doch niemand hatte eine Ahnung vom traumatischen Erlebnis, ein Kind auf der Flucht verloren zu haben. Nicht nur ein Kind, schon früher auch den Mann.
Fast drei Monate Suche. Josef Pühringer und die Volkshilfe-Betreuerin Christa Bohaumilitzky haben dann alle Hebeln in Bewegung gesetzt, das Kind zu finden. Wie sollte es aber gelingen, da die Mutter und die Geschwister nicht sagen konnten, wo der achtjährige Mohamad verloren wurde, wo sie vom Zug auf den LKW umgestiegen sind. Pühringer und Bohaumilitzky schalteten das Internationale Rote Kreuz ein. Von dort kam am Montag, 26. Februar, aber die Nachricht, dass die Suche eingestellt wurde. Das Kind Mohamad Rahimi sei nicht zu finden. Es gab aber Anhaltspunkte, dass Mohamad in Ungarn sein könnte, und die Asylkoordination in Österreich verwies Pühringer auf das Helsinki-Komitee in Ungarn. Dann ging es Schlag auf Schlag. Pühringer schickte ans Komitee per Mail ein Foto vom Buben. Am Mittwoch-Nachmittag, 28. Februar kam der Anruf: Mohamad ist gefunden!
Weinen und lachen. Als Pühringer diese Botschaft der Mutter überbrachte, löste sich das Leid der letzten drei Monate in Weinen und Lachen auf. „Jetzt kann Mutter wieder lachen“, sagte Pühringer zwei Tage später zu den Kindern beim Besuch der Familie, die unweit der Schule im Asylquartier wohnt. Die letzten Monate und auch schon die sechs Monate, die die Flucht mindestens gedauert hat, haben Spuren hinterlassen, gewiss. Aber jetzt stärkt Hoffnung die Mutter Mariam. Es sollte nicht mehr allzu lange dauern und Mohamad kommt zur Familie nach Neufelden. Dann fehlt noch der Vater. Er, der als Polizeibeamter in Afghanistan schwer verletzt wurde und psychisch krank ist, ging am Bahnhof in Athen verloren. Die Freude, das Kind gefunden zu haben, steht nun aber im Vordergrund. Mutter und Sohn haben auch schon miteinander telefoniert. „Es geht mir gut“ – sehr viel mehr hat Mohamad nicht gesagt. Das Telefonat war eher ein gemeinsames Weinen und Lachen.
Familienzusammenführung. Pühringers Hilfe ist weiter gefragt. Mutter Mariam und die Kinder Zahra und Aleresa mussten mit ihrer Unterschrift unter dem Bild des gefundenen Buben bestätigen, dass es Mohamad ist. Der Antrag auf Familienzusammenführung wurde gestellt. Transportfragen sind noch zu klären. Es könnte schon noch einen Monat dauern, bis Mohamad in Neufelden ist. Bis dahin wird er weiter in der Obhut eines Onkels sein, der sich in der vermissten Zeit um ihn angenommen hat.