Edith Stein ist bekannt als Jüdin und Philosophin, die zum katholischen Glauben konvertierte, Karmelitin wurde und im Zuge der NS-Judenverfolgung in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde. Die Grundlagen für ihre Stärke und Geradlinigkeit finden sich nicht zuletzt in verborgenen Phasen ihres Lebens.
Lern- und eigenwillig. Zu Edith Steins Erinnerungen an ihre jüdische Kindheit gehört das lebhafte und starke Verlangen nach der Schule. Sie setzt durch, dass sie ein halbes Jahr früher eingeschult wird. Die Schule ist zunächst für sie der Ort, an dem sie ihre Begabungen entfalten kann, mehr noch als in der Familie. Erst als Lebensfragen sie zu beschäftigen beginnen, leidet sie an den Grenzen der Schule so sehr, dass sie diese mit 14 Jahren verlässt und erst zwei Jahre später wieder fortsetzt. Offensichtlich brauchen Jugendliche Orte, wo sie sich ihren Lebensfragen stellen können. Wo gibt es solche Orte in unserer Gesellschaft? Bei Else in Hamburg. Was tut sie in den zwei Jahren? 10 Monate verbringt sie in der Familie ihrer ältesten Schwester Else, die in Hamburg mit einem Arzt verheiratet ist. Sie selbst bezeichnet diese Zeit als eine Art „Puppenstadium“, die dennoch von weitreichenden inneren Such-Bewegungen und Fragen erfüllt ist. Sie erfährt, dass sie gebraucht wird und gewinnt tiefen Einblick in das Ehe- und Familienleben ihrer Schwester. Doch für die nach Antworten suchende Edith kommen neue Fragen hinzu: Was ist die Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft? Wie steht es um die Beziehung zwischen Mann und Frau? Wo zieht es mich hin? Wieder in Breslau zurück, bereitete sie sich privat auf die Aufnahme ins Gymnasium vor.
Im Seuchenlazarett. Edith Stein imponiert als „intellektuelle Heilige“. Umso interessanter ist der Einblick in ihre praktisch-sozialen Erfahrungen während ihres Lazarettdienstes. Während des Ersten Weltkrieges hält sie es für ihre Pflicht, dem Roten Kreuz in Breslau ihre Dienste anzubieten. Nach längerer Wartezeit wird sie nach Mährisch-Weißkirchen gerufen. So intensiv sie bis dahin in Göttingen studiert, so eifrig arbeitet sie im Lazarett. Ihr Einsatz widerlegt landläufige Schwarz-Weiß-Malereien über die „Typisierung“ studierter oder praktisch orientierter Menschen. Beseeltes, ja beherztes Herangehen an die Aufgaben, die das Leben stellt, ist entscheidend für dessen Qualität und innere Erfüllung. Neuerlich bewegen Edith Stein wesentliche Lebens- fragen: Was sind bleibende Werte angesichts des Todes, Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach dem „Warum“ und „Wofür“.
Als Weggefährtin. Ihrem Einsatz im Lazarett folgen weitere wichtige Ereignisse: abschließende Prüfungen, Assistentin bei Prof. Edmund Husserl, die verwehrte Habilitation, Lehrtätigkeiten … Und dann ihr Eintritt in die katholische Kirche! Es folgt ein achtjähriger Lebensabschnitt als Lehrerin in Speyer, eine kurze Zeit als Dozentin in Münster und schließlich der Eintritt in den Kölner Karmel, um nur einige Stationen zu nennen. Vor allem ihre Briefe zeigen, dass sie zeitlebens vielen Menschen Weggefährtin war in deren Suchen und Fragen. Ihre Seligsprechung sehe ich als kirchliche Anerkennung dieses ihres Wirkens an den Mitmenschen. Ihre Heiligsprechung am 11. Oktober 1998 erlebte ich in Rom, am 1. Oktober 1999 wurde sie zur Mitpatronin Europas erhoben, zu Recht: Wer sich näher mit ihren Werken beschäftigt, wird darin Aussagen von bleibender Gültigkeit entdecken.