In Esbet El Nakhl, einem Stadtteil von Kairo, leben vor allem koptische Christen als Müllsammler. Inmitten der Müllsiedlung befindet sich das Salam Center des koptischen Schwesternordens „Daughters of St. Mary“. Sie haben hier ein Sozialprojekt aufgezogen.
Im Norden der Achtmillionen-Stadt Kairo sind die meisten Straßen staubig und nicht asphaltiert. Früher war diese Gegend eine grüne, fruchtbare Oase. Daran erinnert heute nur noch der Name: Esbet El Nakhl, Ort der Palmen. Palmenfelder gibt es hier schon lange nicht mehr. Stattdessen sind Hochhäuser aus dem Boden geschossen, manchmal bis zu 15 Stockwerke hoch. Viele der billig gemauerten Gebäude sind nur halbfertig und unverputzt. Trotzdem werden sie von Dutzenden Familien bevölkert, zusammengepfercht auf engstem Raum. Der Ruf eines Muezzin schallt durch die engen Gassen. Auf dem schmutzigen Sandboden legen Bäcker ihr Brot aus. Ein kleines Mädchen bietet schrumpeliges Gemüse zum Verkauf an. In diesem bunten Chaos fallen die sauberen, ordentlich verputzten Wände des Salam Centers schon von weitem auf. Die Bildungseinrichtung wird von dem koptischen Schwesternorden „Daughters of St. Mary“ betrieben. Die christlichen Kopten sind die größte religiöse Minderheit in der vorwiegend muslimischen Gesellschaft Ägyptens.
Graue Schwesterntracht. Schwester Maria, die Oberin des Salam Centers, trägt die graue Tracht der sozial engagierten koptischen Nonnen. Die Angehörigen aller anderen Frauenorden der Kopten sind als schweigende Nonnen in Schwarz gekleidet. Die Schwestern des Salam Centers tragen über ihrer Tracht noch eine weiße Schürze. Die verdeckt eine Tasche, in der sie allerlei Dinge verstauen können: Stifte, Papier, manchmal sogar einen Hammer. Die Schürze zeigt, dass die Frauen arbeitende Nonnen sind, dass sie einen Dienst an der Welt leisten. Um die Taille ist ein Gürtel geschlungen, genauso wie bei den Mönchen, als Verweis auf das Alte Testament, in dem es heißt, Gottes Volk solle sich gürten, um allzeit bereit zu sein. Für Schwester Maria ist das eine alltägliche Selbstverständlichkeit. Bei den 2800 Kindern, die die Schule des Salam Centers besuchen, muss sie ständig bereit sein, Entscheidungen zu treffen und Probleme zu lösen. Aber es ist ihr auch wichtig, dass den Kindern nicht nur Bildung geboten wird, sondern auch Ruhe und Abwechslung von ihrem sonst eintönigen, aber anstrengenden Leben. „Ein Junge, der morgens müllsammeln geht, muss um fünf Uhr aufstehen und den Esel aufzäumen“, berichtet Schwester Maria. „Dann fährt er mit dem Karren von Haus zu Haus, um den Müll einzusammeln. Mittags kommt er zurück in diese Gegend und gibt den Frauen und Kindern den Müll zum Sortieren. Dann fährt er nochmal los zum Mülleinsammeln. Falls der Junge schon elf oder zwölf Jahre alt ist, geht er nachmittags vielleicht in eine Kaffeebar und trinkt Tee. Einige rauchen auch Bango, das ist Marihuana. So ist das Leben der Kinder, die hier im Müll leben und nicht zur Schule gehen.“ Müllhütten. Das größte Gebäude des Salam Centers ist das Krankenhaus. Seit 30 Jahren wird es mit Spendengeldern finanziert. Der pensionierte Pastor Günter Meyer-Mintel kommt immer wieder nach Esbet El Nakhl, um das Projekt zu begleiten. An die vielen Treppen, die zum Dach des Krankenhauses führen, hat er sich gewöhnt, genauso wie an den apokalyptisch anmutenden Blick, der sich von dort aus bietet. „Ich sehe hier ein Gebiet von Müllhütten“, beschreibt er. „Sie sind aus Fässern gebaut, die man aufgeschnitten und platt gemacht hat. In viele der Hütten kann man hineinsehen. Die Menschen hier arbeiten mit dem Müll. Während der Nacht ziehen sie durch die Stadt und sammeln ihn ein. Hier öffnen und sortieren sie ihn nach Plastik, Glas, Blech, Stoffresten und organischen Abfällen, die an die Tiere verfüttert werden.“
Müll als Einkommensquelle. Die Bewohner der Müllsammlergemeinde stammen ursprünglich aus Oberägypten. Vor etwa 50 Jahren mussten sie ihre Oasen verlassen, nachdem es jahrelang nicht mehr ausreichend geregnet hatte. In Kairo bekamen sie den sozial untersten Platz in Ägypten zugewiesen, weil sie Kopten sind. Die vorwiegend von Muslimen geleitete Stadtverwaltung gab ihnen die Erlaubnis, den Müll der Stadt einzusammeln und alles Brauchbare zu nutzen. Die junge Schwester Monica hat sich noch nicht an den Anblick der desolaten hygienischen Verhältnisse in der Müllsammlergemeinde gewöhnt. Sie arbeitet seit drei Jahren im Salam Center: „Die Menschen hier sind sehr arm und oft deprimiert. Ich habe das Gefühl, dass sie traurig sind, nicht glücklich. Sie leiden ständig an Augenkrankheiten, Magenproblemen, Lungenentzündungen.“ Studien von UNICEF besagen, dass 40 Prozent der Kinder, die in den Müllhütten geboren werden, im ersten Lebensjahr sterben. Auch die Erwachsenen haben nur eine geringe Lebenserwartung. Vor allem der Qualm, der an vielen Stellen aufsteigt, wenn nutzlose alte Plastiktüten verbrannt werden, greift die Atemwege und die Netzhaut der Augen an. Viele Menschen sind erblindet.
Revolution. Zwar sind die meisten Müllsammler in Esbet El Nakhl nach wie vor koptische Christen. Es gibt aber auch immer mehr Muslime, die im Müll ihr Auskommen suchen. In Esbet El Nakhl leben Christen und Muslime meist friedlich zusammen. Doch Schwester Maria meint, seitdem das ägyptische Volk den Despoten Mubarak gestürzt hat, mache sich auch unter den Ärmsten ein Gefühl der Unsicherheit breit: „Anfangs waren alle Ägypter glücklich über die Revolution. Sie haben die Freiheit gespürt. Sie glaubten, die Demokratie würde bald kommen. Aber nach einer Weile begannen sie, sich unsicher zu fühlen, Kopten und Muslime.“ Mit Billigung der Militärmachthaber haben manche Ägypter sich auch die Freiheit genommen, ungestraft Kopten anzugreifen. Das schlimmste Ergebnis dieser Entwicklung war das Massaker auf dem Platz vor dem Rundfunkgebäude Maspero. Am 9. Oktober 2011 haben Soldaten der Armee 27 Kopten ermordet, die für ihr Recht auf freie Religionsausübung demonstrieren wollten. „Auch Christen aus dieser Gegend waren bei der Demonstration auf dem Maspero-Platz dabei“, erinnert sich Schwester Maria. „Einem Mann, der immer zu uns in den Konvent kommt, um den Müll abzuholen, wurde ins Bein geschossen. Das sind mutige Leute, die stolz darauf sind, Christen zu sein.“
Wandel. Bald nachdem Mubarak gestürzt war, haben die Mitarbeiterinnen des Salam Centers das Fach „Demokratie“ in das Curriculum der Schule aufgenommen. Die Nonnen sind die Hauptverantwortlichen für die Verwaltung und die Konzeption der Arbeit dieses großen Zentrums. Das ist außergewöhnlich, denn eigentlich beschränkt sich die Rolle der Frau in der orthodoxen koptischen Kirche auf eine devote, dienende Funktion unter der Anleitung männlicher Würden- träger. Dass die Nonnen eigenständig und selbstverantwortlich ein erfolgreiches Sozialprojekt aufgezogen haben, wird von Teilen der koptischen Hierarchie nicht gerne gesehen. „In unserer Kirche können nur jene Frauen vollwertige Nonnen werden, die in einem kontemplativen Konvent leben. Sie sollen nicht raus in die Welt gehen, um dort zu dienen. Aber die Gesellschaft braucht die Arbeit von engagierten Frauen.“ Schwester Maria weiß, dass ihr Handeln vielen Frauen neue Möglichkeiten öffnet, nicht nur innerhalb der koptischen Kirche. „Wir öffnen Türen für Frauen, die Verantwortung übernehmen wollen. Wir stärken ihre Identität. Es gibt hier Frauen, die den Müll völlig eigenständig verkaufen. Denen bringen wir lesen und schreiben bei. Wir motivieren sie, einen eigenen Personalausweis zu beantragen und wir machen ihnen bewusst, dass sie Rechte und Pflichten haben. In der Zukunft wollen wir erreichen, dass Frauen auch in den Gemeinderat gewählt werden.“ Seit Beginn des arabischen Frühlings hat sich vieles verändert in der ägyptischen Gesellschaft. Auch alte, scheinbar selbstverständliche Normen werden plötzlich in Frage gestellt. Schwester Maria glaubt, dass sich durch diese Entwicklungen ihre Kirche und auch die Rolle der koptischen Frauen ändern werden.