Jahrzehntelang wenig beachtet finden Reliquien plötzlich wieder Aufmerksamkeit. Dabei geht es nicht um Nostalgie. Neue theologische Interpretationen zeigen, dass die Tradition der Reliquienverehrung kein Kult um tote Gebeine ist, sondern auf das Zentrum des Glaubens verweist: auf die Auferstehung.
Auf den ersten Blick wird man die Skelette auf dem barocken Hochaltar des Stiftes Mondsee eher als schaurig oder skurril empfinden denn als spirituell anregend. Über dem Altartisch erhebt sich ein siebenteiliger, reich verzierter Schrein, der mit Reliquien gefüllt ist: mit den Gebeinen des seligen Abtes Konrad von Mondsee, dessen Knochen zu einer Sitzfigur zusammengefügt wurden, sowie an der Seite mit vier liegenden Skeletten von Katakombenheiligen aus Rom. (Einen von ihnen, den Märtyrer Liberatus, zeigt das Bild rechts.) Das ganze Ensemble ist in einem Glasschrein angeordnet, bewusst zum Anschauen und Hinschauen gestaltet. Doch die Knochengebilde wollen den Betrachter/innen keinesfalls Angst vor dem Tod oder der Hölle einjagen, sondern ganz im Gegenteil: Sie möchten Hoffnung wecken. Sie versuchen in der Sprache der Barockzeit die Botschaft der Auferstehung zu erklären. Die Knochen von Heiligen, besonders von Märtyrern, lenken den Blick auf ihre Vollendung. Blutzeugen für den Glauben oder Heilige, auf deren Fürbitte Wunder geschehen, leben bei Gott. Wenn man an ihrem Grab, wo ihr Leib beigesetzt ist, betet, hat man eine Verbindung in den Himmel.
Zur Ehre der Altäre erhoben
Da man den Leibern der Heiligen immer näherkommen wollte, wurden die Gräber geöffnet, deren Gebeine in Kirchen an Altären beigesetzt und im Mittelalter schließlich sichtbar auf die Altäre gestellt. Die Redewendung „zur Ehre der Altäre erhoben“ zeugt davon. Ein herausragendes Beispiel dieser Erhebung ist der Reliquienaufsatz von Mondsee.
Reliquien weisen nach oben
Reliquien stellen den Gläubigen vor Augen: Die Seele der Heiligen ist bereits bei Gott. Bei der Auferstehung der Toten am Jüngsten Tag wird der Leib, dessen Überreste man am Altar sieht, mit der Seele vereint und zur Herrlichkeit des Himmels geführt. „Mit der Reliquie, etwa einem Knochensplitter, den Gläubige besaßen, hofften sie ein Angeld auf die Zukunft zu haben: In diesem Knochensplitter ist etwas von der Heiligkeit des Märtyrers enthalten, der bei der endgültigen Auferstehung zum Himmel strebt und den Glaubenden, der diesen Splitter besitzt, quasi mitreißt“, erklärt der Religionswissenschafter Johann Ev. Hafner. Reliquien sind Anker, um seinen Glauben an die eigene Auferstehung zu festigen.
Missbrauch von Reliquien
Natürlich ist nicht zu leugnen, dass im Lauf der Jahrhunderte mit den Reliquien viel Missbrauch getrieben wurde. Sie mussten für Magie und Hokuspokus aller Art herhalten. Eine gewisse Distanz zum Reliquienkult ist sogar im Konzil von Trient spürbar, das den Glauben der katholischen Kirche in Abwehr zu Martin Luther definiert hat. Das Konzil bezeichnet die Reliquienverehrung nur als „nützlich“, nicht als verpflichtend. Theologie hat jedenfalls die Aufgabe, Auswüchse in der Reliquienfrömmigkeit an eine strukturierte Rede von Gott zurückzubinden, so Johann Hafner. Besondere Sorgfalt ist geboten, wenn es sich um „Jesusreliquien“ handelt: Bauchnabel Jesu, seine Milchzähne oder Windeln, Dornenkrone, Kreuz, Lanze, Schwamm oder Grabtuch. „Diese Reliquien sind keine historischen Beweisstücke. Sie können und wollen den Glauben nicht beweisen“, sagt die Theologin Barbara Leicht, die das Heft „Jesusreliquien“ gestaltet hat. „Sie wollen mit Christus verbinden. Sie sind eine Hilfe, ihm konkret nahezukommen.“
„... Jesusreliquien bildeten für Gläubige einen Anker, um sich selbst und das eigene Leben, aber auch das eigene Leiden, am irdischen Jesus zu verankern und ihm ganz konkret nahezukommen. Die Reliquien schufe die greifbare Verbindung zu Jesus Christus ... Am deutlichsten drückt dies wohl eine Inschrift eines verzierten Kreuzreliquiars aus dem 12. Jahrhundert aus, das heute in St. Peter in Rom ist: „Holz siehst du außen, Christus innen.“ Barbara Leicht in dem heft „Jesusreliquien“
Von der Sandale Jesu bis zum Bart des Propheten
Der Artikel „Reliquien als Osterbotschaft“ nimmt auf das Heft „Jesusreliquien“ der Zeitschrift „Welt und Umwelt der Bibel“ (Nr. 1/2013) Bezug. Es bietet einen inhaltlich und bildlich hervorragend aufgemachten Streifzug durch die Reliquienfrömmigkeit. Beginnend bei Gegenständen des Alten Testamentes, die von Gottes Wirken erzählen, über die Steinbank, auf der Plato saß, bis zu den Kreuzreliquien und dem im Islam verehrten „Bart des Propheten“ präsentiert das 72-seitige Heft vielfältige Aspekte der Reliquienkultur. „Jesusreliquien“ ist für KirchenZeitungs-Leser/innen um 9,80 Euro portofrei (!) beim Bibelwerk Linz zu beziehen.