KOMMENTAR_
Ich habe das Glück, dass mir von all meinen Erlebnissen eher die guten in Erinnerung geblieben sind – wie dieses, das ich in den ersten Monaten im Internat erlebt habe. Es ist 45 Jahre her. Bei Tisch saßen wir alphabetisch: auf meiner Seite jene mit den Namens-Anfangsbuchstaben E und F, uns gegenüber jene mit H.
Der Suppentopf wurde aufgetragen, und der Erste am Tisch schöpfte seinen Teller – seinem eigenen Hunger entsprechend – randvoll. An den Hunger der anderen dachte er nicht. Wir sahen mit Bangen, dass der Topf nun zu einem Drittel ausgeschöpft war.
Unserem Erzieher war das nicht entgangen. Er kam, wortlos nahm er den vollen Topf und trug ihn ans andere Tischende zu jenem, der als letzter an der Reihe war. Die Lehre saß. Wir achteten künftig sehr auf Gerechtigkeit beim Teller-Beladen. Wie viel steht mir zu? Wie viel darf ich noch nehmen? Es war eine meiner besten Internatserfahrungen.
Das menschliche Miteinander spiegelt uns die Heilige Schrift als Tischgemeinschaft. Da kommt es auf Benehmen an. Jetzt stelle man sich diesen Tisch nicht nur räumlich vor – dass die einen heroben sitzen und die anderen unten –, sondern ausgedehnt über die Zeit.
Die einen sitzen im Heute, die anderen am morgigen Ende und so fort, und manche kommen erst als letzte dran. Bei allem, was man sich gönnt, auch ans untere Tischende zu denken: Das gebietet der Anstand. Wenn wir jetzt die Töpfe schon leer schöpfen, was bleibt dann für die auf der anderen Seite?
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