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Gesicht im blinden Spiegel. Johannes Czermak, Sohn einer deutsch-böhmisch-tschechischen Familie aus Neustadt an der Mettnau ist 16 Jahre alt, musikalisch hoch begabt und Schüler in einem Gymnasium, als der Krieg zwischen Preußen und Österreich ausbricht. Naiv und kriegsbegeistert zieht er mit zwei Freunden 1866 in die Schlacht von Königgrätz. Durch eine wundersame Rettung überlebt er als Einziger der drei. Schwer verwundet an Leib und Seele – mit einem zerstörten Gesicht. Wie ist ein Weiterleben unter diesen Umständen möglich? Das ist die zentrale Frage, um die Brita Steinwendtner ihren Roman aufbaut. Auf 370 Seiten erzählt sie den weiteren Lebensweg des Johannes in den folgenden fast 50 Jahren, an dessen Ende ein weiterer Krieg steht. Die Kunst, vor allem die Musik, und die Bildung sind der Schlüssel, wie ein Leben selbst unter widrigsten Bedingungen gut werden kann.
Geographisch spannt sich der Bogen vom nordöstlichen Böhmen bis ins oberösterreichische Steyertal und nach Venedig.
Das Faszinierende an diesem Roman ist, wie es der Autorin gelingt, die gesellschaftlichen Umbrüche in dieser Zeit – den Zerfall der Monarchie, die beginnende Industrialisierung, den Nationalismus, den Aufbruch der Frauenbewegung … – höchst kenntnisreich und klar zu schildern und auf der anderen Seite die handelnden Personen in einer Art und Weise lebendig werden zu lassen, die zeitweilig zu Tränen rührt. Eindrucksvolle Landschaftsschilderungen und poetische Einleitungen der einzelnen Kapitel kommen noch dazu. – Ein zu Herzen gehendes Plädoyer für den Frieden und die Liebe.
Brita Steinwendtner: Gesicht im blinden Spiegel. Salzburg, Otto Müller 2020, 371 Seiten, € 25,–. ISBN 9783701312795
Lebensreise. Eine Wallfahrt auf den Spuren des Heiligen Aloysius von Gonzaga, dem bei der Pflege von Pestkranken 23-jährig verstorbenen italienischen Adeligen aus dem 16. Jahrhundert, steht im Zentrum und gibt den Rahmen für die sehr persönliche Lebensreise, auf die Alois Brandstetter seine Leser/innen in seinem jüngsten Buch mitnimmt.
Der jedenfalls in Oberösterreich weltberühmten Schriftsteller wird am 5. Dezember 82 Jahre alt. Er wurde in Pichl bei Wels als jüngstes Kind einer Müllerfamilie geboren und war u. a. an der Universität Klagenfurt Professor für Deutsche Philologie. Daneben hat er über 20 Romane veröffentlicht, mit denen er sich einen Platz unter den Großen der deutsch-sprachigen Literatur gesichert hat.
Doch der Namenspatron und die mit ihm verbundenen Pilgerstätten sind nur das Gerüst, entlang dessen der Autor von seiner eigenen persönlichen, geistigen und geistlichen Entwicklung erzählt und dabei bei unzähligen Weggefährten und für ihn bedeutsamen Persönlichkeiten Station macht. Es überwiegen die positiven Beziehungen, doch vereinzelt kommen auch Enttäuschungen zur Sprache. Neben dem unübertroffenen Sprachwitz und dem profunden Wissen, ist das Assoziative, das vom Hundertsten-ins-Tausendste-Kommen charakteristisch für den Erzähler Alois Brandstetter. Das hat er bereits in seinem ersten Roman „Zu Lasten der Briefträger“ (1973) auf höchst amüsante Weise gezeigt und in weiteren Romanen angewendet. – Das ist auch die Methode in diesem Buch und es macht die Lektüre zu einem lehrreichen Lesegenuss.
Alois Brandstetter: Lebensreise. Salzburg – Wien, Residenz Verl. 2020, 394 Seiten, € 26,–. ISBN 9783701717354
Unter offenem Himmel. Die Schicksale von fünf Frauengenerationen verbindet die Schweizer Autorin Katharina Geiser in dieser beeindruckenden Familiensaga. Die Geschichte beginnt in der Gegenwart. Klara, eine stille, zurückgezogene Frau, Buchhändlerin von Beruf, macht sich auf den Weg in die Herkunftsgegend ihres ehemaligen Geliebten, um zu ergründen, was sie immer noch mit ihm verbindet. Dabei allerdings öffnen sich andere Perspektiven, die mit ihren Vorfahrinnen zu tun haben. Es beginnt mit Elise. Eine starke, lebenspraktische Person, geboren Mitte des 19. Jahrhunderts in einem kleinen Schweizer Dorf, nach dem frühen Tod der Mutter gezwungen, sich um die jüngeren Geschwister zu kümmern, wird sie sehr jung schwanger, vom Kindsvater verlassen und verlässt die Familie, um in Zürich als Prostituierte Geld zu verdienen. Sie heiratet, bekommt zwei weitere Kinder und kehrt schließlich zurück ins Heimatdorf.
Gekonnt wechselt die Autorin zwischen den Zeiten und Personen, indem sie in abwechselnden Ka-piteln von Elise und ihrer Ururenkelin Klara erzählt, bis in der Mitte des Buches die Verbindung der beiden durch drei weitere Generationen von Frauen deutlich wird. Sie verortet ihre Figuren jeweils sehr genau in der realen Geschichte der letzten 150 Jahre. Armut, Kindersterblichkeit, Epidemien, Krieg und Migration bis hin zu Umweltskandalen sind genau recherchiert und beschrieben.
Und so erfährt man nicht nur über den Alltag in der jeweiligen Zeit, sondern auch über Ereignisse von weitreichender Bedeutung für die Sozial- und Kulturgeschichte Mitteleuropas.
Katharina Geiser: Unter offenem Himmel. Salzburg, Jung und Jung 2020, 310 Seiten, € 23,–. ISBN 9873990272398
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