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Karl Lipitsch ist ein wenig sympathischer, nicht mehr ganz junger Mann, ein Besserwisser, einer, der die Menschen, im Besonderen die Frauen, zu kennen meint und sie verachtet. „Allein zu leben, bedeutete für Lipitsch das höchste Glück. Er lebte seit einem halben Jahr in einer Art Einsamkeit, die er vollkommen nannte.“ Seine Zeit gehört dem Denken und Schreiben eines philosophischen Universalwerks. Und dennoch, das Leben oder der Zufall – oder wie immer man es nennen mag – stört diese selbst gewählte Vollkommenheit in Form einer Begegnung mit seiner Nachbarin Mathilde. Das Unvermeidliche passiert: Selbst ein Menschenfeind kann sich verlieben. Zumal „von beiden Seiten etwas da war, was man Interesse mit Vorbehalt nennen konnte – zwei Pole, die unwillkürlich den Kreislauf der Betörung erzeugen“. Lipitsch allerdings sieht sich gezwungen, seinen Seelenzustand vor sich selbst zu verbergen. Ob und wie das dann weitergeht, wie Lipitsch sich bis zum Wahnsinn in seine Gedankenkonstruktionen verspinnt, erzählt Ana Marwan aus der Perspektive des Protagonisten.
Mit präziser Beobachtungsgabe und leiser Ironie legt sie männliche und menschliche Verhaltensweisen offen und zeigt Zuschreibungen von Geschlechterrollen auf, ohne sie zu werten. Der in Slowenien geborenen und in Wien lebenden Autorin ist mit ihrem Debüt- Roman eine vor allem sprachlich hervorragende literarisch-philosophische Charakterstudie gelungen, die einen Platz auf diversen Shortlists verdient hätte.
Ana Marwan: Der Kreis des Weberknechts.
Otto Müller, Salzburg 2019, 191 Seiten, € 22,–. ISBN 9783701312719
Pauline Drolc, geborene Bast, stirbt am 24. August 1945 im Lager Hrastovec unweit von Maribor in jugoslawischer Gefangenschaft. Sie hatte 70 Jahre lang in ihrem Elternhaus in Lasˇko, vormals Tüffer, im gemischtsprachigen Grenzgebiet der ehemaligen Untersteiermark ein relativ unauffälliges Leben geführt. Warum ausgerechnet sie von Partisanen interniert wurde und zu Tode kam, bleibt unklar. Auch aus ihrer Lebensgeschichte ist wenig bekannt. Obwohl in einer Familie glühender Deutschnationalisten aufgewachsen, ließ sie sich davon wenig beeindrucken und blieb im Gegensatz zu ihren Brüdern zeitlebens in ihrem Heimatort.
Pauline ist eine Großtante des österreichischen Autors und Übersetzers Martin Pollack, dessen Buch über den eigenen Vater, SS-Sturmbannführer Gerhard Bast, 2004 unter dem Titel „Der Tote im Bunker“ erschienen ist und ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der österreichischen NS-Vergangenheit ist. Genau der Umstand, dass die Tante sich nicht anstecken ließ von dem in ihrem Umfeld herrschenden Nationalismus, Antislawismus und Antisemitismus, sondern sich ihre Anständigkeit bewahrte, war für Martin Pollak Anlass, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Es gehe keineswegs darum, die Greueltaten der Nazis zu relativieren und gegen andere Greueltaten aufzuwiegen, betont der Autor. Seine Methode ist, anhand von Einzelschicksalen die Geschichte verständlich und ein Stück weit begreifbar zu machen. Auch wenn Tante Pauline selbst aufgrund der mangelnden Fakten nicht sehr plastisch wird, so wird durch Pollacks berührende Erzählkunst jedenfalls ein wichtiges Kapitel mitteleuropäischer Geschichte für heutige Generationen besser verstehbar.
Martin Pollack: Die Frau ohne Grab. Bericht über meine Tante. Zsolnay, Wien 2019, 179 Seiten, € 22,70. ISBN 9783552059511
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