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Die unaufhörliche Wanderung. „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“ war das Buch, mit dem Karl-Markus Gauß zuletzt vor gut einem Jahr begeisterte. Vom Innenraum seines Zuhauses in Salzburg aus nahm er seine Leser/innen mit auf seine Welterfahrungs-Reise. Diesmal ist es umgekehrt: Der Autor kommt von seinen Welt-Erlebnissen zu sich heim. Das Buch hat keine geschlossene Handlung mit einem Anfang und einem Ende, sondern ist eine Art Autobiografie seines Denkens und Werdens, zusammengefügt aus 23 Reportagen, Reden, Zeitungsbeiträgen der letzten Jahre. Drei Texte bringen bislang Unveröffentlichtes, zwei davon gleich am Anfang des Buches. Da beschreibt Gauß den Sommelier in Albanien, der als Muslim noch nie ein Glas Wein getrunken hat, aber an Geruch und Farbe erkennt, was gut ist. Eine zweite neue Geschichte beschreibt einen Gang durch das jüdische Viertel im mährischen Trˇebícˇ. Hier befindet sich nach Gauß das am schönsten renovierte jüdische Viertel Europas – aber es lebt kein einziger Jude mehr in der Stadt. Zwischen diesen beiden Geschichten erzählt Gauß aus Wien – und lobt die schon immer gegebene Vielsprachigkeit der Hauptstadt. In den meisten Beiträgen lernt man den Autor in seinem Denken kennen. Freilich, die politischen Verhältnisse haben sich gegenüber dem Erscheinungsdatum der Urspungsbeiträge überholt. So ist die Regierungskonstellation in Österreich nicht mehr dieselbe wie jene, gegen die Gauß seine Gründe ins Treffen führt. Gewiss keine „leeren Lektürekilometer“, wie sie der Autor bei seinem Schriftstellerwerden erlebt hat. Verschiedenes eben.
Karl-Markus Gauß: Die unaufhörliche Wanderung. Wien: Zsolnay 2020, 208 S., € 23,70 ISBN 9783552072022
Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien. Auf Empfehlung des Großvaters verschlägt es ihn, für den Frankreich oder Deutschland bedeutend reizvoller gewesen wäre, nach Wien. Dass man hier gar nicht Deutsch spricht, sondern Wienerisch, ist eine der großen Überraschungen für den Protagonisten in Radek Knapps neuem Buch. Wie sich auch sonst eine Reihe von Eigenarten der Stadt und ihrer Bewohner dem Zugereisten offenbart. Zum Beispiel die Art, Probleme zu lösen. Während anderswo systematisch oder chaotisch, endlos oder auch zielgerichtet diskutiert und in der Folge gehandelt wird, geht man in Wien eher mit einem philosophischen Zugang an die Sache heran: „Schaun ma mal, dann sehn ma schon“. Bezeichnungen wie Mozartkugeln oder Mohr im Hemd geben Rätsel auf. Besonderheiten wie die Kapuzinergruft laden zum Geschichtsunterricht der Sonderklasse ein. Aber auch Skurrilitäten in Gestalt des heiligen Bürokratius oder beispielsweise der Umgang vieler Stadtbewohner/innen mit ihren Haustieren lassen den Neuankömmling staunen. Mit Ironie, zuweilen mit Sarkasmus und dem Stilmittel der Übertreibung, immer aber mit spürbarer Zuneigung zu den Menschen in seiner Wahlheimat beschreibt er, was er sieht und nur sehen kann, weil er es aus der Distanz betrachtet. Radek Knapp, der mittlerweile mehr als dreimal so lang in Wien lebt als in seinem Geburtsland Polen und der längst österreichischer Staatsbürger ist, kultiviert den Blick des Fremden als eine Art neuer Heimat, wie er in einem Radiointerview gesagt hat.
Leider ist der Untertitel dieses amüsanten und streckenweise nachdenklich machenden Buches gründlich misslungen und ein weniger schlampiges Lektorat hätte ein paar störende Fehler korrigiert.
Radek Knapp: Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien. Notizen eines Möchtegern-Österreichers. Wien: Amalthea 2020, 160 S., € 20,–, ISBN 9783990501818
Die Richterin. Gabrielle ist eine Frau in einer gewichtigen Position. Als Asylrichterin entscheidet sie in zweiter Instanz souverän über ursprünglich abgewiesene Geflüchtete. Ob jemand nach geltendem österreichischem Recht im Land bleiben darf oder abgeschoben wird, liegt in ihrer Macht. Gabrielle ist selbstständig, unabhängig, finanziell gut situiert und dem Anschein nach glücklich verheiratet. Als das Gerücht auftaucht, jemand wolle sich für ein Urteil an Gabrielle rächen, erhält sie zwar Personenschutz, doch nach und nach gerät ihr ganzes Leben – beruflich wie privat – aus den Fugen.
Die Grenzen zwischen Fakten, Fantasien und Erinnerungen verschwimmen. Wie ein Damoklesschwert hängt die Gefahr zu erblinden über ihr. Ein Schicksal, dem schon ihre Mutter nicht entging. Doch auch sonst trägt sie schwer an vielem, was sie mit ihrer Herkunftsfamilie verbindet. Da ist der Vater, ein autoritärer Waffenhändler, der unter mysteriösen Umständen zu Tode kommt, ständig in Gedanken präsent. Und auch für ihren Bruder Karl, der ins Drogenmilieu abgerutscht ist, sie in früheren Jahren schwer bedroht hat und mit dem der Kontakt längst abgebrochen wurde, fühlt Gabrielle sich nach wie vor verantwortlich.
Joe, der Ehemann, der als Lehrer in Pension ist und den ganzen Haushalt managt, macht seltsame Dinge, was Gabrielle durch Zufall entdeckt.
Ganz wie im richtigen Leben, wo die berufliche und die private Ebene in einer Person untrennbar verbunden sind und Sorgen, Erinnerungen und alltägliche Handlungen einander überlagern, ist der ganze Roman ein Konglomerat (zu) vieler Erzählstränge. Da kann es schon vorkommen, dass die Gedanken der Richterin – während einer Vernehmung durch ein Schmuckstück eines Anklägers abgelenkt – plötzlich beim Ehemann landen und sich so wieder eine ganz andere Erzählebene auftut. Deshalb ist der von der Literaturkritik hoch gelobte Roman der preisgekrönten Autorin eine Herausforderung an die Konzentration der Leserin. Aufschlussreich, berührend und nah an der Realität sind die Lebensgeschichten der Klienten der Richterin.
Lydia Mischkulnig: Die Richterin. Innsbruck: Haymon 2020. 289 S., € 22,90, ISBN 9783709981108
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