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Diesmal geht es um den sechs Jahre jüngeren Bruder Richard, den Liebling seiner großen Schwestern. Dass ihm nur ein kurzes Leben beschieden war, erfährt man bereits auf der zweiten Seite.
„Er sah aus wie der hübsche Bruder von Alan Wilson, dem Sänger von Canned Heat, der hatte sich mit siebenundzwanzig das Leben genommen – Richard würde es mit dreißig tun.“ Richard war anders als die meisten Kinder in seinem Alter. Mit acht, nach einem ersten Besuch seiner Schwestern, mit denen er zwar artig beim Essen sitzt, aber kein Wort spricht, reisst er aus und versteckt sich mit eine paar Büchern in einer Höhle. Er bleibt tagelang verschwunden und muss von der Polizei gesucht werden.
Einen „Schmähtandler“ nennt die Autorin den kleinen Bruder liebevoll, der sich seine Wirklichkeit mit einer ausgeprägten Phantasie großteils selber gestaltet und keine großen Erwartungen an das Leben zu haben scheint. Richard, der nach dem Tod der Mutter und dem Zusammenbruch des Vaters als Kleinkind von seinen Schwestern getrennt wird und allein bei einer Tante aufwächst – das erfahren wir im zweiten Buch –, erlernt den damals schon aussterbenden Beruf eines Schriftsetzers, den er auch ausübt. In der Freizeit betätigt er sich als naiver Maler.
Sein ständiger und treuer Begleiter ist ein Hund, der ihm zuläuft und den er Samasch nennt. Noch rätselhafter ist die Geschichte mit Putzi, einem kleinen Mädchen, das ihm von seiner überforderten Mutter einfach überlassen wird. Auch diese unfreiwillige Vaterrolle nimmt er hin und erfüllt sie in einer herausragenden Weise, intuitiv, ohne Plan, ohne Sicherheit und eigene Initiative, die Lage zu klären. „Schauen wir“, antwortet er auf die Frage der Schwester, wie das denn weitergehen soll, ein Mann mit dem Kind einer Frau, die er nur ein paar Mal gesehen habe. „Ich weiß niemanden, dem das Leben so wenig wichtig war, wie dem Richard“, wird Michael Köhlmeier an einer Stelle zitiert.
Der Ehemann der Autorin, der im Roman an einigen Stellen auch als literarischer Ratgeber auftritt, kannte Richard in jungen Jahren durch gemeinsame Aktivitäten, weswegen er in die Spurensuche eingebunden ist. Vorsichtig und immer wieder an der eigenen Erinnerung und am sprachlichen Ausdruck zweifelnd, tastet sich die Autorin an Richard heran, für den sie zeitlebens eine wichtige Bezugsperson war, von dem sie andererseits auch ganz viel nicht wusste.
„Löwenherz“ ist eine einfühlsame, tieftraurige Geschichte über einen liebenswürdigen Menschen, der wohl nicht ganz in diese Welt gepasst hat.
Monika Helfer: Löwenherz. Carl Hanser, München 2022. 190 Seiten, € 20,60. ISBN 978-3-446-27269-9
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