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Ein Gespräch über Fassungsunterschiede, die Aufgabe des Dirigenten und Menschheitsfragen in der Sprache der Musik.
Wie wichtig ist es, sich bewusst zu machen, welche Fassung einer Bruckner-Symphonie man hört?
In den frühen Fassungen sehen wir ein völlig anderes Bild von Anton Bruckner als in den späteren. Bruckner schreibt hier kompromisslos, avantgardistisch, unmittelbar und von höchster Dringlichkeit. Das ist sehr wichtig zu wissen, um das Jahrhundertgenie Anton Bruckner als Ganzes zu verstehen. Unsere Mission war es daher auch, unser Publikum mit diesen Fassungen zu konfrontieren und diese den anderen Versionen gegenüberzustellen. Vergleicht man die Urfassung der vierten Symphonie (1874) mit der heute populären 1878/80er-Fassung, dann sehen wir zwei völlig unterschiedliche Werke. Was bewegt Bruckner, was treibt ihn an? Wie kommt es, dass er diese revolutionären und einzigartigen Gedanken, die quer zum damaligen Massengeschmack standen, aufs Papier bringt – und davon auch trotz aller Misserfolge nicht ablässt? Er ist seinem Vorhaben unbeirrbar bis in seine letzte Symphonie hinein gefolgt, in der er dann, völlig von Hörerwartungen befreit, seiner ultimativen Vision zum Durchbruch verholfen hat.
Die verschiedenen Fassungen der Symphonien entstanden aus verschiedenen Gründen – von der Weiterentwicklung als Komponist bis zur Reaktion auf Misserfolge. Lässt sich das im Detail rekonstruieren?
Die Motive sind im Einzelnen schwer auseinanderzuhalten, denn wir können ja nicht in den Kopf des Komponisten hineinschauen. Mit Überarbeitungen begonnen hat Bruckner jedenfalls schon vor den großen Misserfolgserlebnissen. Später hat er auch aus Frustration heraus Symphonien verändert – verändern müssen. In wieder anderen Fällen hat er sich viele Jahre nach der erstmaligen Komposition erneut mit der Partitur auseinandergesetzt, weil sich sein Können verändert hat: Seine erste Symphonie beispielsweise überarbeitete er nochmals mehr als 20 Jahre nach der Erstaufführung. Die neue Ausgabe seiner Werke macht jetzt auch im Druck Bruckners einzigartiges Periodisieren seiner Werke sichtbar, die Einteilung der Takte in der Partitur nach bestimmten Zahlenverhältnissen. Früher hat man das weggelassen, weil man dachte, es täte zunächst für die Aufführung nichts zur Sache. Aber für das Verständnis dessen, was da passiert, sind diese Einteilungen eminent wichtig. Man erkennt Symmetrien oder gerade die Asymmetrien, die Bruckner sehr bewusst einsetzt.
Ein Beispiel: Die erste Fassung der vierten Symphonie (1874) hat ein völlig anderes Scherzo und ein anderes Finale als die zweite Fassung (1878/80). Dazwischen entstand das Volksfestfinale (1878). 1887/89 kommt die dritte Fassung hinzu. Wenn Sie wählen müssen, welche Fassung spielen Sie?
Die Antwort ist ein ganz Entschiedenes „Es kommt darauf an“. (lacht) Auf die unglaublich komplexen, avantgardistischen Einsprengsel im ersten und letzten Satz der Urfassung will ich auf gar keinen Fall verzichten. Auch das von Ihnen angesprochene erste Scherzo ist zauberhaft. Dennoch hat Bruckner, noch bevor es die übliche Ablehnung gab, das neue Scherzo komponiert. Interessant ist auch die neue Sicht auf die vom Musikwissenschaftler Robert Haas (1886–1960) so bekämpften Eingriffe von Zuarbeitern Bruckners wie den Schalk-Brüdern oder Ferdinand Löwe. Heute wissen wir, dass vieles davon sehr wohl von Bruckner für die Druckfassung autorisiert war. Was nun die vierte Symphonie betrifft: Ich persönlich finde, dass die 1878/80er-Fassung perfekt in der Balance ist. Die dritte Fassung hat diesen großen Strich im letzten Satz, wo die Reprise nicht mit dem Hauptthema beginnt, sondern gleich mit dem zweiten Thema. Das plötzliche Erscheinen dieses Hauptthemas im Fortissimo halte ich aber für die ganz große Stärke. Wenn es um die Aufführung geht, kommt es auch darauf an, mit welcher Motivation wir für welches Publikum spielen. Bei manchen Gelegenheiten kann die unbekannte Urfassung die bessere Wahl sein.
Warum wird bei der achten Symphonie bis heute auch die Haas-Fassung gespielt, die lange nach Bruckners Tod entstand?
Die Achte ist für mich der aufregendste und verrückteste Fall: Die einzige wirklich authentische Version ist die erste Fassung von 1887. Sie wird heute fast nie gespielt. Die 1890er-Fassung ist die Überarbeitung nach massiver Kritik u. a. des Dirigenten Hermann Levi, die hat Bruckner selbst aber nie gehört. Die einzige Version, die Bruckner je gehört hat, ist die Druckfassung von 1892, die aber wiederum nicht authentisch ist, weil da die Schalk-Brüder und wahrscheinlich auch Ferdinand Löwe viel hineingebastelt haben, ohne dass Bruckner dies je abgesegnet hätte. Und jene Version, die heute in Musikerkreisen als die schönste gilt, die Fassung von Robert Haas, hat Bruckner weder gehört noch so komponiert noch je autorisiert. Die Achte steht somit geradezu exemplarisch für sämtliche Probleme, die Bruckner-Symphonien mit sich gebracht haben.
Das Finale der Neunten konnte Bruckner nicht zu Ende komponieren. Heute gibt es Aufführungsfassungen aus dem überlieferten Material. Die einen sagen, das soll man nicht spielen, weil das so nicht von Bruckner ist. Andere sagen: Da ist mehr Bruckner drin als Mozart im Mozart-Requiem. Das ist wohl eine Glaubensfrage?
Ja, absolut. Das Problem beginnt damit, dass Bruckners Arbeitszimmer, das damals voll von Skizzen zur Neunten war, nach seinem Tod nicht versiegelt war und kondolierende Besucher „Erinnerungsstücke“ in Form von Notenblättern mitgenommen haben. Teilweise sind sie später wieder aufgetaucht. Letztlich hat man zu wenig Material, um den Satz nach Bruckners Plan vollenden zu können. Sein – leider nur mündlich überlieferter – Wille war, statt des unvollendeten Finales das Te Deum zu spielen. Ich selbst kann der Aufführung ohne Finale viel abgewinnen, denn mit den Hörnern und den Wagnertuben am Ende des langsamen Satzes entschwindet die Musik am Schluss sozusagen nach oben. Letztlich muss jeder Interpret und auch jeder Hörer für sich beantworten, was für ihn stimmig ist.
Sie haben Ihre Aufnahmen aller Bruckner-Symphonien mit zwei Orchestern durchgeführt: dem Bruckner Orchester Linz und dem Radio-Symphonieorchester Wien. Wie ähnlich oder wie verschieden sind diese Orchester?
Natürlich hat jedes Orchester seine eigene Individualität im Klang. Das ist vielleicht der wesentlichste Unterschied, der vor allen Dingen mit den Musikerpersönlichkeiten zu tun hat, aber auch mit dem Raum. Wenn es bei Bruckner aber darum geht, den volksmusikalischen Lokalkolorit und die Verwurzelung in der Wiener Klassik zu zeigen, sprechen beide Orchester absolut denselben österreichischen Dialekt. Beide sind zwar multinationale Ensembles – allein im Bruckner Orchester haben wir 25 verschiedene Nationalitäten. Aber die Musikerinnen und Musiker sind hier größtenteils sozialisiert worden, haben meist in Österreich studiert und kennen den Klang und die Art und Weise des Spielens. Das ist der entscheidende Punkt. Im Übrigen habe ich es als großes Geschenk empfunden, die Ensembles nicht bis zur Deckungsgleichheit engführen zu müssen, sondern jedem seinen Charakter lassen zu können. Das ist für mich als Dirigent ohnehin das oberste Gebot: Ich muss versuchen, ein Orchester immer zu sich selbst zu führen, also zu helfen, dass die Musiker das sein dürfen, was sie sind, und das tun, was sie am besten können.
Der Charakter eines Ensembles ist aber nichts Statisches. Sie sind seit 2017 Chefdirigent des Bruckner Orchesters. Inwieweit sind Sie an der Entwicklung des Orchesters beteiligt?
Genauso wie man einen Busfahrer nicht nach der Aussicht fragen sollte, müssten diese Frage eigentlich andere beantworten.
Aber Sie werden mit einer Idee nach Linz gekommen sein.
Natürlich, aber die Idee ist eben, dass man nicht einfach etwas von außen mitbringt, das man obendrauf stülpt, sondern erkennt, was da ist. In Bezug auf Bruckner, den das Orchester ja im Namen führt, ist eine große Tradition vorhanden, weil das Repertoire seit Jahrzehnten in jeder Saison gespielt wird. Was den Notentext betrifft, ist da eine unglaublich hohe Kompetenz und Expertise. Eine Dirigentin oder ein Dirigent muss diese Werke in Linz nicht proben, sondern man steigt auf einem ganz anderen Niveau ein und kommt sofort zu den Feinheiten. Es zeichnet das Bruckner Orchester aus, dass es mit großer Freiheit, Lebendigkeit und auch Flexibilität mit diesen musikalischen Texten umgeht, weil man sie hier einfach bis in die Haarspitzen beherrscht. Dessen muss man sich aber auch selbst bewusst werden. Denn gleichzeitig stehen wir auf einem nahezu unübersichtlichen Markt an Bruckner-Interpretationen, auf dem wir erkennbar sein und uns behaupten müssen. Wir müssen diese Musik immer neu erleben und neu denken. Es ist keine Option, eine Bruckner-Interpretation für die Ewigkeit „einzutüten“. Gerade bei Bruckner geht das nicht, weil wir bei ihm sowohl das Expansive, das Choralhafte, das Spirituelle, aber auch das unglaublich Irdische finden: In jeder Symphonie spielt die Polka eine Rolle, ein Ländler oder ein schneller Walzer. Bruckner hat mit Polaritäten gearbeitet, mit Extrempositionen. Jede Symphonie ist wie ein Individuum, das immer neu verstanden werden muss, obwohl er stets eine sehr ähnliche Schablone als Symphonie-Bauplan benutzt hat. Und dafür braucht es Ensembles wie das Bruckner Orchester oder auch das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, denen diese Werke längst in Fleisch und Blut übergangen sind. Dann kann man sie als das sehen, was sie sind: große Weltbeschreibungsformeln.
Sie haben eben vom schnellen Walzer gesprochen. Mir ist aufgefallen, dass Sie Bruckners frühe Symphonien teilweise sehr schnell spielen. Was ist der Grund dafür?
Die frühen Symphonien sind echte Sturm-und-Drang-Werke. Da steht in den Scherzi nicht nur „bewegt“, sondern „sehr schnell“. Aber was heißt das schon? Bruckner ist mit Tempoangaben sparsam, also muss man sich selbst seinen Reim darauf machen und einen Blick auf die unmittelbaren Vorbilder werfen. Das ist in erster Linie Richard Wagner, aber auch Hector Berlioz, den Bruckner in Wien unbedingt kennenlernen wollte. Berlioz war gerade in seinen rhythmischen Experimenten und in der Orchestersprache extrem. Seine Einflüsse kann ich in Bruckners frühen Symphonien regelrecht nachweisen – nicht nur in der Dritten, aber da besonders im letzten Satz. Wenn man in die Rezeptionsgeschichte von Bruckner-Symphonien blickt, heißt es oft: Das ist viel zu schwer zu spielen, also spielen wir es lieber langsam. Diesen Reflex kennen wir auch bei Beethoven, denken Sie an den letzten Satz seiner 8. Symphonie. Ich glaube, das ist ein viel zu einfacher Weg. Natürlich geht es nicht darum, metronomisch genau zu sein, es geht ja niemals um Buchstabentreue. Ich werde damit keine bessere Aufführung haben, aber ich muss das, was der Komponist schreibt, unbedingt als die erste Inspirationsquelle nehmen, ich muss irgendwie in seinen Kopf kommen.
Über Wagners Einfluss auf Bruckner wird oft gesprochen. Er hat seine Werke in den Symphonien zitiert. Aber ich höre keinen Wagner, wenn ich Bruckner höre. Können Sie mir das erklären?
Ja, das ist absolut richtig, denn da besteht ein altes Missverständnis. Zwar gibt es ohne Wagner keinen Bruckner. Wagner war ihm eine entscheidende Inspirationsquelle, aber nur neben ganz vielen anderen, die auch wichtig waren: Beethoven, Mozart, Haydn, Renaissancekomponisten, französische und italienische Musik sogar bis Rossini. Was Bruckner nie war, ist der Symphonien schreibende Epigone Wagners, den aber so viele so gern gehabt hätten. Auch die vielen Zitate ändern nichts daran, dass Bruckner eigenständige Musik geschaffen hat. Und Bruckner überwindet Wagner sogar in der neunten Symphonie, weil er harmonisch noch einen Schritt weiter geht. Niemand kam so nahe an die Zwölftonmusik heran, an die Idee serieller Musik, an Schichten, an das Prozesshafte, als seinerzeit Anton Bruckner, und das hatten Anton Webern, Alban Berg und Arnold Schönberg schon bemerkt. György Ligeti oder Olivier Messiaen wären ohne Bruckner nicht denkbar. Aber auch hier zeigt sich seine Polarität: Einerseits steht er stark in der Tradition, andererseits auch für die Avantgarde, auch in philosophischer und ästhetischer Hinsicht. Er definiert sich nicht wie Beethoven über den Kampf, den dieser für die Ideale der Französischen Revolution ausgetragen hat. Bei Bruckner tritt das Ritual an die Stelle des Kampfes, eine fast schon überpersönliche Draufsicht auf Kunst. Die Verbindung zwischen Beethoven und Bruckner ist Schubert. In Bezug auf Wagner heißt das: Bruckner hat sich von ihm inspirieren lassen, aber wusste genau, was er von ihm bekommt und was nicht.
Wenn man nach Symphonikern des 20. Jahrhunderts sucht, die von Bruckner inspiriert waren, muss man sicher Gustav Mahler nennen, der ja Hörer in Bruckners Vorlesung war. Aber wie würden Sie das bei Dmitri Schostakowitsch einschätzen?
Das ist schwierig zu sagen. Ich glaube, kein Symphoniker nach Bruckner kommt um ihn herum. Eine gewisse Affinität könnte man darin sehen, wie Schostakowitsch die Blechbläser einsetzt – das Choralhafte. Andererseits birgt seine Musik wieder sehr stark politischen Kampf – und zwar auf eine sehr persönliche Art. Denken Sie daran, wie Schostakowitsch die existenzielle Bedrohung durch Stalin thematisiert und seine eigenen Initialen D-S-C-H mit den Noten d, es, c und h in die Musik hineinkomponiert. Bei Mahler hat Bruckner seine Spuren hinterlassen. Wen man aber unbedingt nennen muss, wenn es um durch Bruckner inspirierte Komponisten geht, ist Jean Sibelius. Bei ihm finden wir auch diese sakrale Aura, das Weltensprengende und auch diese tiefe Spiritualität.
Ihnen ist eine Gesamteinspielung der Bruckner-Symphonien in allen ihren Fassungen gelungen. Einen ähnlichen, aber nicht abgeschlossenen Versuch gab es in den 1980er-Jahren durch Gennadi Roschdestwenski mit dem damaligen Orchester des Kulturministeriums der UdSSR. Ich fand das überraschend, dass da jemand in der Sowjetunion sitzt und sich in dieser Intensität mit Bruckner auseinandersetzt.
Das passt zu Roschdestwenski, der ja selbst komponiert hat und ein sehr analytischer Mensch war – wie viele Dirigenten aus der russischen Schule damals, etwa Jewgeni Mrawinski oder Jewgeni Swetlanow, den ich noch live erlebt habe. Heute würde man vielleicht sagen, das waren unterkühlt denkende Dirigenten, die aber die Architektur eines Werkes und seine Wirkung genau kannten. Die hatten ein unglaublich gutes theatralisches Gespür im Umgang mit Steigerungen. Obwohl Bruckner keine Opern geschrieben hat, hatte auch er ein solches Gespür und das perfekte Timing.
Sie haben in den letzten Monaten sehr viel Bruckner gespielt. Braucht man da auch Bruckner-Pausen?
Ich brauche keine Bruckner-Pausen. Aber hin und wieder Dirigierpausen! Das hat nichts mit Bruckner zu tun, sondern damit, dass alles Kraft kostet, was man mit Leidenschaft und Herzblut tut. Bruckner aber wird nie langweilig oder uninteressant. Kunstwerke wie seine Symphonien haben so viel mit unserem Leben und mit unserem Herzen zu tun, dass wir nie davon ablassen können. Vielleicht sind wir manchmal nicht in der Stimmung oder abgelenkt. Aber Bruckners Musik ist nichts, was man alle paar Jahre mal wieder aus dem Regal holt. Die Musik solch großer Komponisten ist Teil unseres Menschseins geworden. Ihr Genie liegt darin, dass sie die großen Menschheitsfragen und Dinge des Lebens verdichten und in der Sprache der Musik aussprechen konnten. An diesen ewigen Fragen kommt niemand vorbei. Sie sind ein Geheimnis, das wir begrifflich nicht begreifen können, sondern das uns ergreift. Erst wenn wir ergriffen werden, verstehen wir, fangen wir an zu leben. Und dafür brauchen wir die Musik.
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