In ihrem früheren Leben ist Sarah Kanawin ein sehr aktiver Mensch. Sie mag ihre beiden Teilzeitjobs, schreibt daneben ihre Dissertation und geht ihren Hobbys wie Kino gehen oder Wandern leidenschaftlich nach.
Als die Wienerin im Juni 2020 – noch bevor es Impfungen gibt – an Covid-19 erkrankt, sprechen die Ärztinnen und Ärzte zuerst von einem milden Verlauf. Es sollte anders kommen. „Ich hatte hohes Fieber, insgesamt drei Wochen lang lag ich die meiste Zeit im Bett“, erinnert sich die 38-Jährige.
Die Monate danach fühlt sie sich nie richtig gesund. „Ich habe irgendwie meinen Job geschafft, aber sonst nichts mehr“, erzählt sie. Wenn sie abends von der Arbeit nach Hause kommt, legt sie sich gleich hin. Die Mediziner:innen tappen mit den ersten Diagnosen im Dunkeln und raten Sarah Kanawin zu mehr Aktivität, damit sie ihren Energielevel wieder dauerhaft hebt. Das verschlimmert die Krankheit aber nur und führt letztlich zum totalen Zusammenbruch.
Erst Monate später, im Frühling 2021, kommt die richtige Diagnose, die erklärt, wieso Kanawins Körper so fatal reagiert hat: Sie hat ME/CFS, das Chronische Fatigue-Syndrom. Dabei handelt es sich eine schwere neuroimmunologische Erkrankung.
In der milden Ausprägung können Betroffene teilweise noch ihren Jobs nachgehen, in den schwereren Formen führt die Krankheit zum Verlust der Arbeitsfähigkeit bis hin zur Pflegebedürftigkeit. Typisch für ME/CFS ist die Belastungsintoleranz, die dazu führt, dass sich der Zustand der Betroffenen nach körperlicher oder mentaler Anstrengung verschlechtert. Diese Verschlechterung kann Stunden, Tage oder sogar dauerhaft anhalten.
In Österreich sind geschätzt 26.000 bis 80.000 Menschen an ME/CFS erkrankt, häufig als Folgeerscheinung von Corona und Long Covid. Die Krankheit kann aber auch durch andere Viren auslöst werden.
Die ungenaue Datenlage zeigt, dass es an Wissen und Forschung zu einer Krankheit fehlt, die die Weltgesundheitsorganisation WHO schon seit 1969 als neurologische Erkrankung führt. Den Betroffenen wurde lange keine Aufmerksamkeit geschenkt, die Folgen der Coronapandemie mit vielen Long-Covid-Patient:innen könnten das jedoch ändern.
Es brauche jedenfalls mehr Anlaufstellen und mehr Anerkennung, fordert die Österreichische Gesellschaft für ME/CFS als Betroffenenorganisation anlässlich des Welt-ME/CFS-Tag am 12. Mai. Veranstaltungen und Aktionen sollen die Erkrankung sichtbarer machen.
Auch Sarah Kanawin sucht den Weg in die Öffentlichkeit, damit bald mehr für ME/CFS-Kranke getan wird. „Ich muss meine wenige Kraft dafür nutzen“, sagt sie. Bisher gibt es jedoch kein einziges Medikament zur ursächlichen Behandlung der Erkrankung.
Neue Therapieansätze müssen erst ausgetestet werden. Sarah Kanawin etwa hat gute Erfahrungen mit Immunglobulinen. „Das hat die Beschwerden, die mit dem autonomen Nervensystem zu tun haben, verringert“, sagt sie. Problem dabei: Die Krankenkasse wollte die Behandlung nicht übernehmen, nur durch ihren persönlichen Einsatz sprang ein Krankenhaus ein und übernahm die Kosten.
Das Leben mit ME/CFS sei wie einen kaputten Akku zu haben, beschreiben Betroffene das Gefühl. „Ich finde dieses Bild auch sehr zutreffend. Die Energie lädt einfach nie richtig auf. Hinzu kommt eine Mischung aus einer Art Kater und betrunken sein, gepaart mit dem Gefühl eines grippalen Infekts“, erklärt Sarah Kanawin, die einen Rollstuhl braucht, um nicht alle Energie beim Gehen aufzubrauchen. Es gebe definitiv bessere und schlechtere Tage.
„Wenn ich über meine Grenzen gehe, zum Beispiel durch einen Arzttermin, dann ist der nächste Tag meistens gar nicht gut. Und das kann, je nachdem, wie sehr ich mich überanstrengt habe, auch länger andauern. Auch Infekte haben mich über den Winter zwei Mal sehr zurückgeworfen. Und das, obwohl ich sehr vorsichtig war, ich sowieso nicht viele Menschen sehen kann und noch sehr oft Maske trage.“
Aufgrund ihrer Krankheit kann sie ihren Beruf nicht mehr ausüben. Sie habe im Gegensatz zu anderen ME/CFS-Betroffenen aber immerhin das Glück, dass sie überhaupt Pflegegeld bekomme.
Dass über die Krankheit noch wenig bekannt ist, führt Sarah Kanawin auch darauf zurück, dass mehrheitlich Frauen betroffen sind: „Ich bin mir mittlerweile eigentlich sicher, dass das eine Rolle spielt. Es gibt ja einige Studien, die belegen, dass Frauen mit Schmerzen weniger ernst genommen werden, außerdem später und dann weniger Schmerzmittel bekommen, und dass Frauen allgemein weniger ernst genommen werden.“
Weltweit wird am 12. Mai auf ME/CFS aufmerksam gemacht. In Österreich findet vor dem Parlament ab 10 Uhr eine Protestaktion statt. Unter dem Motto „#unversorgtseit1969“, als Referenz auf die Anerkennung der Erkrankung durch die Weltgesundheitsorganisation WHO seit 1969, machen die Betroffenen und ihre Angehörigen auf die schlechte Versorgungslage aufmerksam.
Aufgestellte Schuhe und Botschaften sollen für die Betroffenen stehen, die zu krank sind, um zu protestieren und sich für ihre Rechte einzusetzen. Zudem werden Sehenswürdigkeiten und Gebäude am Welt-ME/CFS-Tag blau beleuchtet.
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