Angesichts der in westlichen Gesellschaften spürbaren Erschöpfung referierten Sie bei den Salzburger Hochschulwochen darüber, wie Führungspersönlichkeiten zur Erschöpfung oder zur Inspiration beitragen. Geht es dabei um Firmenmanagement oder auch um Bereiche wie Erziehung, Politik, Seelsorge?
Tuulia Ortner: Ich fasse das Thema weit. Es ist nicht nur im Beruf wichtig oder für Erwachsene. Motivationserfahrung in der Schule ist zum Beispiel wichtig für das spätere Leben. Gute Führung setzt eine gesunde Beziehung zwischen Menschen voraus. Als ich ein Semester in Finnland verbrachte, sagte eine Lehrerin, das Wichtigste sei, dass sich die Kinder wohlfühlen und eine gute Beziehung da ist. So ähnlich ist es auch in einem Betrieb: Wer sich sicher und akzeptiert fühlt, kann auch etwas leisten.
Eine Lehrerin ist wie eine Führungsperson für Kinder. Warum haben es Frauen in anderen Zusammenhängen schwer, in eine Leitungsposition zu kommen?
Ortner: Der weiße Mann repräsentiert noch immer für viele das Stereotyp einer Führungsperson. Jemand wie Donald Trump hat die US-Präsidentschaftswahlen zwei Mal gegen sehr qualifizierte Frauen gewonnen! Die Forschung hat gezeigt, dass Frauen, die Führungsverhalten zeigen – verbunden mit Dominanz, Selbstbewusstsein, die eigene Meinung sagen – häufig als unsympathisch wahrgenommen werden. Wenn sie das Gleiche machen wie Männer, werden sie anders beurteilt. Frauen müssen zwischen den Zuschreibungen „inkompetent“ (wenn sie sich feminin geben) und „unsympathisch“ (wenn sie Härte zeigen) ihren Weg finden.
Ihr Vortrag beschäftigte sich auch mit der Frage, was motivierende Leitung gegen die wachsende Erschöpfung bewirken kann. Woher kommt denn die Erschöpfung in der westlichen Welt, in der es keinen harten Überlebenskampf wie in früheren Generationen gibt?
Ortner: Obwohl die Lebensbedingungen für viele in den letzten Jahrzehnten immer besser wurden – mit höherer Versorgungssicherheit bei Ernährung, Gesundheit und Bildung – ist das Gefühl der Erschöpfung verbreitet. Dieses Phänomen erscheint widersprüchlich. Jedoch lässt sich die Ursache nicht auf einen Aspekt zurückführen. Ein wichtiger Faktor könnte der gesellschaftliche Anspruch sein, sowohl individuelle als auch gemeinschaftliche Veränderungen voranzutreiben und sich ständig zu verbessern. Gleichzeitig hat die Digitalisierung, nach der Industrialisierung die bedeutendste Umwälzung der letzten Jahrzehnte, zu einer Transformation geführt: Ständige Verfügbarkeit, permanente Kontrolle und die Verschiebung von sozialen Interaktionen in die digitale Welt haben das Leben verändert. Dies führt zu einer mentalen Belastung. Ein weiterer Aspekt ist die Leistungsgesellschaft, die immer höhere Erwartungen an Einzelne stellt, die sich als perfekt, gesund und glücklich präsentieren sollen. Die Diskrepanz zwischen den gesellschaftlichen Erwartungen und der eigenen Realität kann Frustration und Erschöpfung hervorrufen. Gleichzeitig wird das individuelle Empfinden durch die globale Situation beeinflusst: Ungewissheiten auf politischer, wirtschaftlicher und ökologischer Ebene verstärken das Gefühl der Überforderung, was das Wohlbefinden beeinträchtigt.
Was können Einzelne gegen die Erschöpfung tun – gegen ihre eigene und gegen die allgemeine?
Ortner: Kleine Dinge können extrem wirkungsvoll sein. Jede Person ist wichtig! Sie kann einen kleinen Schritt aus dem gewohnten Trott hinaus machen und schauen, was dann passiert. Einen Menschen zu besuchen oder anzurufen kann ein erster Schritt sein. Oder die Busfahrerin freundlich zu grüßen. Es sind kleine Dinge, die für beide Seiten sehr wirksam sind. Ich hatte ein interessantes Erlebnis in Berlin. Nach einer Veranstaltung sind 40 Brötchen übriggeblieben. Wir haben sie auf dem Uni-Campus verteilt, und die Leute waren so glücklich! Das war eine sehr positive Psychologie-Erfahrung. Ein anderes Beispiel, was man tun kann, ist Dankbarkeit zu zeigen. In Skandinavien bringen die Kinder zum Schulschluss Blumen für die Lehrerin mit. Die Lehrpersonen haben dann riesige Blumensträuße, es gehört zur Kultur des Dankesagens. Es ist immer gut, jemandem zu sagen, wie wertvoll er oder sie für einen ist. Wertschätzen, Danke sagen gehören in Österreich nicht unbedingt zur Alltagskultur. Dankbarkeit macht aber alle Seiten glücklich und motiviert sie.
Dankbarkeit ist eigentlich eine religiöse Kompetenz. Dennoch macht sich auch in den Kirchen Erschöpfung breit. Haben Glauben und Vertrauen der Erschöpfung nichts zu entgegnen?
Ortner: Es hängt zum Teil an inspirierenden Persönlichkeiten, die es schaffen, Beziehungen zu Menschen aufzubauen. Sowohl in den Gemeinden als auch auf höherer Ebene. Inspirierende Personen beziehen Stellung zu kontroversen Themen, bieten Möglichkeiten zur Zustimmung oder Reibungsfläche. Als Jugendliche habe ich in der evangelischen Kirche einen großartigen Pfarrer erlebt, der uns allen das Gefühl gegeben hat: er sieht uns. Ich glaube, das hat viele von uns durch die Pubertät getragen, dass da jemand war, der cooler war als die Eltern, wo wir immer hingehen konnten. Auch die Jugendzentren spielen eine große Rolle. Viele von uns wären auf der Straße gelandet ohne das Gemeinde-Jugendzentrum, wo man einfach abhängen und Tischfußball spielen konnte. Das war wichtig für die Entwicklung. Sonst hängen die Jugendlichen am Computer. Die Bezugspersonen können natürlich auch Frauen sein. Wir haben eine tolle Pfarrerin in der finnischen Gemeinde in Wien. Ich musste mich erst an sie gewöhnen, weil sie keine grauen Haare hat, sondern gleich alt ist wie ich und selber Kinder hat. Aber es ist toll, mit ihr zu reden, und sie vermittelt, dass meine Familie hier wichtig ist. Das gibt Ressourcen: wichtig zu sein!
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