Wort zum Sonntag
Als Armutsforscher beschäftigen Sie sich u. a. mit Fragen nach einem guten Leben für alle, vorrangig aus Sicht von benachteiligten Menschen. Welche Gefahren gibt es, in Armut zu geraten?
Helmut P. Gaisbauer: Die Ursachen von Armut sind so individuell wie wir Menschen und unsere Lebensverläufe. Keine Arbeit zu haben ist ein besonders belastendes Kriterium. Andere Gründe sind gesundheitliche Fragen; falsche Lebensentscheidungen; das Auseinanderbrechen von Familien; gescheiterte Beziehungen, aber auch verstorbene Ehepartner; psychische Gründe stecken oft dahiner, wenn z. B. jemand aus der Arbeitsfähigkeit für einen begrenzten Zeitraum ausfällt; es können auch geleistete Unterschriften von Bürgen bei Krediten sein; alleinerziehend zu sein, ob männlich oder weiblich, birgt die Gefahr, in die Armut zu fallen; mehrere Kinder zu haben in unserer Gesellschaft ist finanziell eine schwere Belastung; und Migrationshintergrund ist ein Faktor für schlechte Einkommenssituationen.
Was die Länder des Südens betrifft, so zeigt sich Armut dort zusätzlich noch durch Kriege, Hunger oder den Klimawandel ...
Gaisbauer: Genau. Wohlhabende Gesellschaften erreichen doch noch ein relativ hohes Sicherungsniveau gegenüber globalen, großen Gefahren wie Umweltkatastrophen; oder es kommt kaum zu strukturellen Unterversorgungen mit Lebensmitteln und es gibt ein hochstehendes Gesundheitssystem, so dass große Risiken minimiert werden können. Ein Teil dieser Risikominimierungsstrategien hängt aber auch bei uns am Einkommen. Und das bedeutet, wir sind als Menschen alle verwundbar und den verschiedenen Lebensereignissen ausgesetzt. Wohlhabende können sich gegen viele dieser Risiken gut schützen durch Zusatzversicherungen oder weil sie Netzwerke haben und gut aufgehoben sind. Das ist bei armen Menschen auch in unserer Gesellschaft dramatisch reduziert, obwohl wir z. B. in Europa als Gesellschaft insgesamt besser organisiert sind als Gesellschaften in den Ländern des Südens.
Die Ansichten unter Armutsforschern hinsichtlich der Entwicklungshilfe sind unterschiedlich. Manche denken, sie sei sinnvoll, andere meinen, sie sei nicht wirksam. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Gaisbauer: Das ist eine Frage der Qualität. Ich würde auf jeden Fall von dem Punkt ausgehen, dass wir verpflichtet sind zur Entwicklungshilfe. Natürlich gibt es gut gemeinte und gut gemachte – darüber trau ich mir kein Globalurteil zu. Es kann aber meiner Meinung nach nicht sein, dass man auf der Grundlage des Argumentes, dass einzelne Projekte oder Zugänge nicht funktionieren, gar nichts macht. Man muss es besser machen. Wir können uns nicht aus dieser Verantwortung stehlen, dass wir uns wirtschaftlich massiv auf Kosten der Länder des Südens bereichern und dann so tun, als ob uns deren soziale Lebensverhältnisse nichts angehen.
Es gibt Studien, die aufzeigen, dass reiche Industriestaaten die Länder des Südens ausbeuten. Sehen Sie das auch so?
Gaisbauer: Man weiß, dass mehr Geld an illegalen Geldflüssen aus dem Süden in den Norden geht, als umgekehrt Entwicklungshilfe aus dem Norden in den Süden. Das heißt, die Gesellschaften dort werden massiv ausgebeutet von den Machthabern vor Ort oder von Menschen, die das Geld schicken und auch von der Schützenhilfe und dem starken Mitverdienst der Geldinstitute bei uns. Das sind die besten Kunden. Da steckt irrsinnig viel Geld dahinter. Das zeigt, dass dort vor Ort am meisten getan werden muss im Hinblick auf gute Regierungsführung, auf gute politische Programme und auf den Aufbau von Sozialsystemen. Das kann nicht von außen importiert werden. Das muss von innen geschehen, kann aber unterstützt werden, wenn es richtig gemacht wird. Zielperspektive müsste sein, in jedem Land der Welt ordentliche Sozial-, Gesundheits- und Bildungssysteme zu haben. Ganz klar. Und da sind die Verantwortlichkeiten unterschiedlich verteilt. Andererseits geht es um intelligente Armutsbekämpfung, die so viel bedeuten und so klein gedacht werden kann.
Woran denken Sie da?
Gaisbauer: Wenn ich z. B. Produktionsweisen möglich mache etwa mit kleinen Handwerks- oder Landwirtschaftsbetrieben, dann ermöglicht das den Menschen vor Ort ein bisschen ihr Leben selbst gestalten zu können. Das sind Zugänge, die dürfen nicht unterschätzt werden. Oder man ändert Strukturen. Da gäbe es die Möglichkeiten, dass Länder, die in der wirtschaftlichen Entwicklung nicht dort stehen, wo wir uns befinden, Entwicklungen überspringen, die wir machen mussten. Intelligent wäre, aktuelle Technologien so einzusetzen, dass sie ein gutes Wirtschaften möglich machen, ohne dass es auf die totale Umweltvernichtung hinauslaufen muss. Es geht darum, umzudenken. Ich meine, da gibt es viel Potential für kluge Lösungen, um einiges besser als schlechter zu machen.
Es braucht also auch eine tiefgreifende Veränderung des Wirtschaftssystems ...
Gaisbauer: Unbedingt, wobei wir mittlerweile schon gelernt haben, dass wir Armut und das, was man unter dem Stichwort Nachhaltigkeit oder der Negativperspektive der Klimaerwärmung diskutiert, unbedingt zusammen denken müssen. Wenn wir versuchen, alle Menschen dieser Erde auf dieses Wohlstands- und Konsumniveau zu bringen, das wir haben, dann hält das unser Planet noch kürzer aus, als der Prognose entsprechend. Das heißt, dass wir auf die richtige Art umverteilen und Konsumgewohnheiten, Produktions-, Lebens- und auch unsere Wirtschaftsweisen, die stark daran gekoppelt sind, ändern müssen. Dringend. Wir dürfen nicht mehr auf Kosten der armen Menschen, aber auch nicht auf Kosten des Klimas, der Umwelt und der guten Zukunft leben. Und gleichzeitig sind, wie schon erwähnt, die Menschen im globalen Süden intelligent aus der Armut zu bringen.
... und Spenden können dabei helfen?
Gaisbauer: Ich denke, dass das machbar ist. Einerseits gehen viele wichtige Spenden in die Nothilfe, die im besten Fall nur stabilisieren kann und noch nicht in die Armutsbekämpfung hineinreicht – wobei das schon sehr viel bewirkt. Spenden helfen, Situationen zu reparieren, die existenzgefährdend sind und Leben bedrohen. Da haben wir meiner Meinung nach keine Alternative dazu. Wir sind verpflichtet zu helfen, weil wir die Möglichkeit dazu haben. Und weil wir in einem Zusammenhang mit den Menschen in den Ländern des Südens stehen – wirtschaftlich und auch geschichtlich, wenn wir an die Kolonialsysteme denken. Und weil wir als Menschen miteinander in Verbindung stehen und die Nächstenliebe auch global gedacht werden muss.
Was die Nächstenliebe betrifft, so geht es nach dem theologischen Prinzip der christlichen „Option für die Armen“ darum, an der Seite von benachteiligten Menschen zu stehen. Wie bedeutend ist das für Sie?
Gaisbauer: Darin sehe ich eine große Kraftquelle für die Kirche an sich, weil man aus der Idee der Nachfolge auf der Seite der Entrechteten und der Menschen steht, die zu kurz kommen, die kein Sprachrohr finden, die von den Verhältnissen erdrückt werden. Ich denke, die Option für die Armen hat die ganz wichtige Aufgabe zu erfüllen, nah bei den Menschen zu sein. Die christlichen Kirchen sind in Europa die größte Nichtregierungsorganisation, die es gibt. Da wird so viel Wichtiges und Gutes gegen Armut und Ausgrenzung getan. Ich glaube, dass das in gewisser Weise auch zukunftsweisend sein muss – das ist ein Auftrag.
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